Hamburg. Wer gesund lebt, kann trotzdem krank werden. Ein Psychotherapeut und Arzt über den modernen Fitnesskult und die Lust am leckeren Essen.
„Es gibt etwa acht Milliarden unterschiedlicher Wege für Lust und Freude, so viele wie es Menschen gibt“, sagt im „Himmel und Elbe“-Interview Dr. Manfred Lütz, Theologe, Arzt und Psychotherapeut. Der 69-jährige Katholik leitete das Alexianer-Krankenhaus in Köln.
Woher kommt die Kraft für die Lust am Leben?
Manfred Lütz: Es gibt Dinge, die sind einfach da. Wie die Lust am Leben. Jedes Wesen, übrigens auch jede Pflanze und jedes Tier, will erst mal leben. Es gehört schon eine gewisse Pathologie dazu, dass man keine Lust mehr am Leben hat.
Manfred Lütz: Wider die Diätsadisten und den Gesundheitswahn
Nun versuchen viele Menschen, sich selbst zu optimieren und gesund zu erhalten, um Lebenslust bei körperlicher und geistiger Fitness zu erreichen. Sie haben diesen Optimierungswahn in einem Ihrer Bücher kritisiert. Vertreten Sie die Positionen auch heute noch?
Anlass meines Buches „Lebenslust – Wider die Diätsadisten, den Gesundheitswahn und den Fitnesskult“ war, dass heute viele Leute nicht mehr an den lieben Gott glauben, sondern an die Gesundheit und alles, was man früher für den lieben Gott getan hat, das tut man heute für die Gesundheit: Wallfahrten, Fasten, gute Werke. Es gibt Menschen, die leben gar nicht richtig, die leben nur vorbeugend und sterben dann gesund. Aber auch wer gesund stirbt, ist definitiv tot. Da ist man am Abend noch durch den Wald gerannt und hat Körner gegessen, und am nächsten Morgen ist man trotzdem tot. Da hätte man doch lieber noch lecker essen sollen.
Lebenskunst: Gesundheit darf nicht sakralisiert werden
So etwas klingt fast blasphemisch, weil Gesundheit derzeit sakralisiert wird. In Wahrheit ist Gesundheit natürlich etwas Gutes, ich bin ja auch Arzt und habe selbstverständlich nichts dagegen, dass man etwas für die Gesundheit tut, aber man sollte eben nicht sein ganzes Leben auf Gesundheit orientieren. Die Sehnsucht nach ewigem Leben ist so lebendig wie eh und je, aber statt religiöser Antworten, versucht man heute das ewige Leben selber herzustellen. Wenn man solchen Patienten eine Krebsdiagnose sagen muss, fallen die aus allen Wolken: Ich hab doch immer so gesund gelebt, Herr Doktor, Sie müssen das Bild verwechselt haben!
Ist der Gesundheitswahn ein Killer für die Lebenslust?
Ja. Es macht einfach keinen Spaß, wenn man permanent Kalorien zählt. Ich habe einmal einen Talkshow-Gast kennengelernt, der stellte auf den Tisch im Restaurant immer ein Kalorien-Zählgerät. Der hatte keinen Spaß am Leben, es sei denn, er trank Mineralwasser und aß nichts. Wenn man glaubt, mit dem Tod sei alles aus und die begrenzte Lebenszeit damit vergeudet, mit allen Mitteln den Tod zu bekämpfen, indem man vorbildlich gesundheitsfromm lebt, dann kommt einem die Unbefangenheit abhanden, die Voraussetzung für Spaß am Leben ist. Wer das merkt, versucht mitunter, Lust zu organisieren, aber organisierte Lust macht auch keinen Spaß.
Chronisch krank: Eine 32-Jährige lebt optimistisch weiter
Wie wichtig ist Lebenslust für Menschen, die schwer erkrankt sind und bald sterben müssen?
Eine chronisch herzkranke junge Frau, 32 Jahre alt, schrieb mir nach der Lektüre meines Buches, dass sie sich bestätigt fühle in ihrem bisherigen Weg. Die Ärzte hätten ihr gesagt, sie müsse sich schonen. Sie aber hatte sich entschieden, lustvoll zu leben, Kinder zu bekommen und das Leben zu genießen. Sie hat Gesundheit eben nicht als das höchste Gut betrachtet und hat ihr Leben im Bewusstsein, vielleicht früher sterben zu müssen, umso intensiver lustvoll genossen. Wer dagegen den Tod verdrängt, verpasst das Leben. Vor 40 Jahren habe ich eine integrative Jugendgruppe gegründet und habe da feststellen können, dass Behinderte trotz aller Einschränkungen ihr Leben oft lustvoller leben, gerade weil sie sich ihrer Begrenzungen bewusst sind.
Können Krebskranke Lebenslust haben?
Na klar, manchmal mehr als Leute, deren Leben unbedacht vor sich hinplätschert. Vor allem am Anfang sind Menschen natürlich meist von der Diagnose geschockt und wenn ein Mensch dann ganz verzweifelt sein sollte, dann kann es helfen, ihn an das zu erinnern, was ihm immer Freude am Leben gemacht hat und ihn zu motivieren, das wieder zu machen. Doch in Wahrheit haben wir ja alle so eine Diagnose.
Das sagt der griechische Philosoph Sokrates über das Sterben
Sokrates hat gesagt, das Sterben beginnt mit der Geburt. Wenn ich jedem Leser jetzt das genaue Datum seines Todes sagen könnte, bin ich sicher, dass er schon morgen anders leben würde. Denn ihm wäre klar: Das ist ein unwiederholbarer Tag weniger auf der Rechnung, den bekomme ich nie wieder. Nun ist es aber so, dass wir alle sterben und dass der morgige Tag ein unwiederholbarer Tag weniger auf der Rechnung ist. Nichts können wir wiederholen. Wir leben heute in einer Art Video-Mentalität, als könnten wir alles wiederholen. Doch jeder Augenblick ist einmalig. Der jetzige Moment, in dem Sie, lieber Leser, diesen Text lesen, ist unwiederholbar. Im Bewusstsein der Unwiederholbarkeit jedes Moments kann man das Leben viel intensiver spüren. Das sagen einem auch Krebspatienten.
Im Mittelalter gab es die Kunst des Sterbens, die Ars moriendi, mit einer Vielzahl an Literatur. Das fehlt doch heute – oder?
Nein, es gibt viele Bücher übers Sterben, doch die werden nicht selten erst dann gelesen, wenn das ein Thema wird. Es fehlt aber das Thema Tod und Sterben mitten im Leben und das ist eben nicht per se etwas Trauriges. In bayerischen „Herrgottswinkeln“ hängt ein sterbender Christus am Kreuz und davor wurde lustvoll das Leben gefeiert. Wenn es uns gelingt, Sterben und Tod wieder mehr ins normale Leben zu holen, wird das Leben sicher wieder lustiger und farbiger.
Was bereitet den Menschen Freude und Lust?
Da gibt es etwa acht Milliarden unterschiedlicher Wege, so viele wie es Menschen gibt.
Menschen neigen dazu, das Negative zu sehen. Was sind die Stimmungskiller in der gegenwärtigen Zeit?
Warum Glücksratgeber ein Stimmungskiller sind
Da gibt es sicher eine ganze Menge. Vor allem sind da die Glücksratgeber, die unglücklich machen, weil da ein Autor beschreibt, wie er persönlich glücklich wurde, und den Leser dann traurig zurücklässt, weil der Leser nun mal leider nicht der Autor ist. Moderne Psychotherapie arbeitet heute ressourcenorientiert, das heißt, man redet nicht übermäßig über die Defizite des Patienten, sondern lenkt den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit auf die besonderen Fähigkeiten des Patienten, die ihm nur zeitweilig aus dem Blick geraten sind. Man redet also nicht über die Stimmungskiller, sondern über die für diesen individuellen Patienten wirksamen Stimmungsanreger.
- Ernährungsdocs zum Abnehmen
- Darmkrebsvorsorge - das ist wichtig
- Jüdisches Leben in Hamburg im Schatten des Terrors
Wie wirkmächtig sind transgenerative Erfahrungen im kollektiven Bewusstsein einer Gesellschaft, also beispielsweise Kriegstraumata, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden?
Natürlich hat das seine Wirkung. Das ungebremste Wohlstandsstreben der Nachkriegsgeneration war sicher auch von der schrecklichen Sinnlosigkeitserfahrung des Krieges getriggert. Aber vor allem ist der Holocaust für Juden auf der ganzen Welt ein tiefes Trauma, das jetzt durch den brutalen Massenmord der Hamas-Terroristen wieder wachgerufen wird. Deswegen ist es so wichtig, dass wir jetzt alles dafür tun, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland sich sicher und von uns geschützt fühlen.
Sie sind als Katholik auch Experte für diese Frage: Wo steckt die Lebenslust in den beiden großen Konfessionen?
Mein Freund, der hinreißende Kabarettist Konrad Beikircher, preist stets den Rheinländer ob seiner – katholischen – Lust am Leben und bedauert den armen Protestanten, weil der ja seine Sünden nicht mit der Beichte entsorgen kann. Doch muss man natürlich mit Klischees aufpassen. Luther war ein lebensfroher, lebenslustiger Mensch. Von ihm sind da auch einige drastische, süffige Bemerkungen bekannt. Katholiken können vielleicht vom Pflichtbewusstsein unserer protestantischen Brüder und Schwestern lernen, und die Protestanten ein wenig von katholischer Leichtlebigkeit. Der Soziologe Max Weber, der sich selber für „religiös unmusikalisch“ erklärte, hat dem Katholizismus wegen der Beichte mehr Lebensfreude zugeschrieben. Man sündigt, beichtet – und dann „isset wieder gut“.