Hamburg. Opferschutzorganisation Weißer Ring half Hamburger aus Krise. Warum auch eine vermeintlich nicht so schwere Tat massive Folgen haben kann.
Bis heute ist da ein leerer Fleck. Das Davor ist klar und deutlich, und auch was danach geschah, hat sich in das Gedächtnis eingebrannt. Jürgen Joost weiß noch, wie ein Mann auf ihn zustürmte. Und er erinnert sich, dass er plötzlich auf dem Boden lag. Dazwischen: Blackout. Leere. Doch trotz dieses Filmrisses ist sich der 67-Jährige sicher, dass er Opfer eines Angriffs wurde. Und damit geht einher ein Chaos der Gefühle, von Verunsicherung bis Beklemmung.
„Dieses Erlebnis hat mich völlig aus der Bahn geworfen“, sagt der Hamburger über die Ereignisse vom Oktober 2022. Monatelang versuchte er, trotz dieser Unsicherheiten mit der Situation allein zurechtzukommen. Dann wurde ihm klar, dass er Hilfe annehmen sollte. Joost wandte sich an die Opferschutzorganisation Weißer Ring.
Hamburger verlor Erinnerung nach Angriff: Das bedeutet Verunsicherung
„Der Weiße Ring ist schnell, gut und professionell“, sagt der Pressefotograf, der die Organisation aus seiner beruflichen Erfahrung seit Jahrzehnten kennt. Und als der Hamburger nun selbst Unterstützung brauchte, konnte der Weiße Ring ebenfalls schnell umfassende Hilfe anbieten. „Das war wichtig für mich, um aus meiner Krise herauszukommen.“
Die Krise: Das ist für Jürgen Joost das Empfinden, Gewalt erfahren zu haben – verbunden mit einem Gefühl der Ohnmacht, weil die Erinnerungen fehlen. Was Fachleute mit dem Wort Amnesie beschreiben, bedeutet für die Betroffenen vor allem Verunsicherung. Da fehlt etwas, etwas Wesentliches. Sie möchten sich erinnern können. Doch es geht nicht. In vielen Fällen ist das ein Grund zu verzweifeln.
Bei Jürgen Joost nahm seine Lebenskrise ihren Anfang am 28. Oktober 2022 in einem Gerichtsgebäude in Hamburg, konkret auf dem Flur vor einem Verhandlungssaal im Ziviljustizgebäude. Dort wollte Joost gemeinsam mit Kollegen die Protagonisten eines Rechtsstreits fotografieren, der zu diesem Zeitpunkt schon länger die Öffentlichkeit und die Medien beschäftigt hatte.
Eklat im Gericht: Joost sei beschimpft und zu Boden gerissen worden
Es ging um das wirtschaftliche und ideelle Erbe des Gründers der Fabrik der Künste, Horst Werner. Zwischen dem damaligen Nachlassverwalter Kai L. einerseits und den langjährigen Angestellten um Werners Stieftochter und Patenkind auf der anderen Seite war es zu keiner Einigung gekommen, wie es mit der künstlerischen Institution weitergehen solle – sodass der Fall vor Gericht gelandet war.
Noch bevor die Verhandlung um eine einstweilige Verfügung in Bezug auf den Nachlass von Horst Werner hatte beginnen können, war es zum Eklat gekommen. Kai L. sei auf Jürgen Joost zugerannt, habe ihn beschimpft und ihn zu Boden gerissen, hieß es später von Zeugen. Und auch Joost selbst ist sich sicher, dass er von Kai L. umgerempelt worden sein müsse, „sonst hätte ich nicht das Gleichgewicht verloren und wäre hingefallen.
Joost über Angriff: „Ich war wohl kreidebleich. Und ich stand richtig unter Schock“
In dem Moment, als er von mir abließ, setzte langsam meine Erinnerung wieder ein“, erzählt Joost. „Ich habe mich dann auf eine Bank gesetzt.“ Die Kollegen, die ebenfalls bei dem Gerichtstermin hatten fotografieren wollen, seien auf ihn zugekommen. „Ich war wohl kreidebleich. Und ich stand richtig unter Schock.“
Rücken- und Nackenschmerzen hatten ihn nach dem Vorfall über Wochen beeinträchtigt. Außerdem hat Jürgen Joost die damaligen Geschehnisse bis heute psychisch noch nicht wirklich verarbeiten können. Das Gefühl, Opfer geworden zu sein, beeinträchtigt ihn, auch heute, zwei Jahre nach den Vorfällen noch. „Ich habe gedacht, ich könnte das wegstecken“, sagt der Berufsfotograf. „Doch es hat mich einfach zu viel Kraft gekostet...“
Opfer leidet an Schlafstörungen und Unruhe – versucht, die Krise in den Griff zu bekommen
Als Pressefotograf, der jahrzehntelang für „Welt“, „Welt am Sonntag“ und auch für das Hamburger Abendblatt aktiv war, hat Jürgen Joost häufig lebhafte, teilweise auch turbulente Veranstaltungen begleitet. „Man ist Journalist und denkt, man kann mit vielem gut umgehen“, sagt der 67-Jährige. „Aber wenn man wirklich selber betroffen ist, so wie ich jetzt, ist das eine ganz andere Sache. Das ist beklemmend.“
Der 67-Jährige erzählt von Schlafstörungen, an denen er litt, von Unruhe, von zermürbenden Gedanken. „Von einer Sekunde auf die nächste gerät man in eine Situation, der man nicht gewachsen ist und die man allein nicht in den Griff bekommt“, beschreibt Joost seine Gemütsverfassung.
Weißer Ring: „Selbst betroffen zu sein, ändert alles“
Dabei wisse er, so Joost, dass es „wirklich schlimmere Angriffe gibt, bei denen Menschen gravierendere körperliche und auch psychischen Folgen erleben. Aber für mich war das schon heftig.“ Als er auch nach Monaten keine wirkliche Besserung spürte, wandte sich der Hamburger im September 2023 an die Opferschutzorganisation Weißer Ring, die er von vielen früheren beruflichen Terminen bereits gut kannte. „Der Verein leistet sehr große Hilfe für Menschen, die in Krisensituationen sind, so wie ich es war“, sagt Joost.
„Wir erleben das täglich: Selbst betroffen zu sein, ändert alles“, sagt Kristina Erichsen-Kruse, stellvertretende Hamburg-Vorsitzende des Weißen Ringes. „Natürlich nehmen wir uns jeden Opfers sehr sorgfältig an. Die Verarbeitung einer Gewalterfahrung ist individuell. Jeder ist anders, geht anders damit um. Eine vermeintlich nicht so schwere Tat, die keine massiven körperlichen Schäden zur Folge hat, bedeutet nicht, dass sie nicht jemanden psychisch sehr lange aus der Bahn werfen kann.“
Opferschutz-Expertin: „Man wird ein Stück weit aus dem Leben gestoßen“
Und bei einem solchen Erlebnis sei es zusätzlich für die Opfer belastend, wenn man sich zumindest an Teile eines Angriffs nicht erinnern könne. „So wird man ein Stück weit aus dem Leben gestoßen“, weiß Erichsen-Kruse. „Das Urvertrauen wird zerstört.“ Der Weiße Ring verhalf Jürgen Joost zeitnah zu Kriseninterventionsgesprächen.
Bei diesen Terminen erfuhr der Hamburger durch einen Experten, dass der Blackout, den der Fotograf in Bezug auf die entscheidenden Sekunden der damaligen Geschehnisse bis heute hat, eine nicht seltene Folge solcher Erfahrungen sei. „Zu hören, dass das eine Schutzbarriere im Gehirn ist, hat mir sehr geholfen und bewirkt, dass ich mit der Situation besser umgehen konnte“, erzählt der 67-Jährige.
Insgesamt hat Joost die Erfahrung gemacht, dass die durch den Weißen Ring vermittelten Termine und Gespräche ihm „eine neue Sicherheit gebracht haben. Ich bin wirklich verstanden worden.“ Joost lobt die Opferschutzorganisation als „Anlaufstelle für Leute, die in Situationen kommen, für die sie nichts können und die man oft nicht allein bewältigen kann.“
Opfer: „Es ist ein beklemmendes Gefühl, überhaupt als Zeuge dazusitzen“
Der Weiße Ring sorgte ebenfalls dafür, dass Joost bei seinem Auftritt als Zeuge im Strafprozess, der schließlich gegen Kai L. verhandelt wurde, eine erfahrene Begleitung hatte. „Der Prozessbegleiter hat mir Sicherheit gegeben.“ Gleichwohl sei es ein „beklemmendes Gefühl, überhaupt als Zeuge dazusitzen“, so Joost. Es sei für Gewaltopfer eine „Stresssituation, verbunden mit Unbehagen und dem Gefühl, nicht ernst genommen zu werden“.
Teilweise seien Fragen gestellt und seine Schilderungen vom Verteidiger so massiv angezweifelt worden, dass er gedacht habe: „Das gibt es doch gar nicht?“ Nach seinem Verständnis sei durch Bilder und Videos, die andere Fotografen von den Geschehnissen gemacht haben, „der Sachverhalt eindeutig“. Sprich: Dass er von Kai L. angerempelt worden sei.
Angeklagter weist den Vorwurf, er habe eine Körperverletzung begangen, weit von sich
Allerdings hatte Kai L. als Angeklagter im Prozess den Vorwurf der Körperverletzung weit von sich gewiesen. „Ich habe niemals in meinem ganzen Leben jemanden tätlich angegriffen“, sagte der 65-Jährige, der mittlerweile von seinen Aufgaben als Nachlassverwalter entbunden wurde, später. Er wurde wegen der Geschehnisse vom 28. Oktober 2022 angeklagt und in erster Instanz wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu 150 Euro verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte 90 Tagessätze zu 100 Euro beantragt.
Gegen das Amtsgerichtsurteil ging Kai L. in Berufung, über die jetzt vor dem Landgericht verhandelt wurde. In diesem Prozess stellte der Angeklagte die Situation so dar, dass er, als er auf den Gerichtssaal zugegangen war, deutlich gemacht habe, dass er „nicht fotografiert werden wollte“. Gleichwohl sei plötzlich „ein unglaubliches Blitzlichtgewitter losgegangen“, drei Fotografen – unter anderem Jürgen Joost – seien dabei dicht an ihn herangegangen. Dadurch habe er sich „bedroht gefühlt“.
Blackout nach Angriff: Urteil gegen Angeklagten in Hamburg
Der Fotograf schilderte die Begebenheit als Zeuge anders. Kai L. sei „aggressiv“ auf ihn zugekommen, so erzählte es Joost jetzt im Berufungsprozess. „Danach habe ich einen Filmriss.“ Nachdem in diesem Prozess mehrere Fortsetzungstermine anberaumt wurden, ist das Verfahren mittlerweile zu Ende gegangen. Das Urteil gegen Kai L. lautete jetzt: Der Angeklagte muss eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 150 Euro zahlen, also insgesamt 9000 Euro. Gegen das Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt. Es ist also noch nicht rechtskräftig.
Ferner gibt es eine zivilrechtliche Verhandlung, die ebenfalls noch nicht abgeschlossen ist. Dabei geht es um die Frage, ob Jürgen Joost Schmerzengeld und Schadenersatz zustehen könnte. Bis beide Prozesse rechtskräftig abgeschlossen sind, dürfte noch einige Zeit ins Land gehen – eine Zeit, die für die Betroffenen Unsicherheit und eine Belastung darstellen.
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„Bis zum Prozessende“, sagt die stellvertretende Weiße-Ring-Vorsitzende Erichsen-Kruse, „können auch mit professioneller Hilfe lediglich Stabilisierungsmaßnahmen stattfinden, damit das Erinnerungsvermögen eines Opfers frei von Beeinflussung bleibt. So lange können sich die Betroffenen das Geschehen nicht von der Seele reden und damit aufarbeiten. Das Verarbeiten dauert seine Zeit.“