Hamburg. Unerwartete Erfahrungen teilt Sabine Steinfeldt. Sie leitete jahrelang eine Klasse mit Kindern, die das Gymnasium verlassen mussten.

  • Abschulung Hamburg: Kein Grund für eine Stigmatisierung der Stadtteilschule
  • Langjährige Lehrerin aus Hamburg revidiert negatives Bild von Rückläuferklassen
  • Abgeschulte Kinder erfahren an Stadtteilschulen in Hamburg Positives

Wenn in Hamburg Schüler eines Gymnasiums nicht in die siebte Klasse versetzt werden, da ihre Leistungen nicht ausreichend sind, werden sie der Schule verwiesen und abgeschult. Zwangswechsler werden sie auch genannt. Wie hoch der Druck der drohenden Abschulung ist, von der jährlich rund 800 Schüler betroffen sind, aktuell für Sechstklässler und deren Familien in der Stadt, erzählte jüngst eine Mutter im Hamburger Abendblatt.

Daraufhin erhielt unsere Redaktion eine Vielzahl von Reaktionen per Mail: Zum einen wurde der Protagonistin ein hohes Maß an Verständnis und Empathie entgegengebracht. Auf der anderen Seite wurde deutlich, dass viele ihr eher negativ gezeichnetes Bild der Stadtteilschule scharf kritisieren. Auch Sabine Steinfeldt hatte sich äußern wollen und sich an unsere Redaktion gewandt.

Schule Hamburg: Klassenlehrerin einer Rückläuferklasse mit unerwarteten Erfahrungen

Sie ist erst vergangenes Jahr nach 26 Jahren an der Stadtteilschule Eidelstedt in Pension gegangen. Zuvor leitete sie eine sogenannte Rückläuferklasse als Klassenlehrerin. Das sind solche siebte Klassen, die an Stadtteilschulen entstehen, wenn die vielen Zwangswechsler nicht auf bestehende Klassen verteilt werden können. Diese Klassen bestehen dann ausschließlich aus Schülern, die von ihren unterschiedlichen Gymnasien abgeschult wurden.

Ein ganz besonderes Szenario? Was gibt es dort an Emotionen aufzufangen? Machen sich Eltern zu Recht Sorgen um die seelische Verfassung ihres Kindes, wenn es Teil einer solchen Klasse wird? Steinfeld gibt hier Innenansichten, die überraschen:

Schule Hamburg: Stadtteilschulen leisten für Kinder, die mehr Zuspruch brauchen, großartige Arbeit

„Ich habe die Klasse im Sommer 2019 mitübernommen. Die Klasse ist bei uns an der Stadtteilschule Eidelstedt im Jahrgang sieben gestartet. Ich bin im Jahrgang acht eingestiegen, da ein Tutor ausgefallen war. Ab Jahrgang neun habe ich sie alleine geführt. Im Sommer 2022 habe ich sie dann nach der 10. Klasse und dem MSA abgegeben. Da ich zwei Hauptfächer unterrichtet habe, war ich immer Klassenlehrerin und habe im Laufe der Jahre darin Erfahrung gesammelt.

Wenn man erst im Jahrgang acht einsteigt, ist das schon anders, als wenn man eine Klasse von Jahrgang fünf an leitet. Diese Klasse war jedoch trotz Pubertät und allem, was dazu und zu einer dynamischen Klasse gehört, etwas Besonderes. Die Stadtteilschulen leisten gerade für Kinder, die mehr Zuspruch brauchen, eine großartige Arbeit. Wir waren und sind immer bemüht, jedes Kind mitzunehmen. 

Abschulung Hamburg: Chancen der Rückläuferklasse – „Spirale wird für das Kind immer enger“

Für viele Eltern ist es wichtig, dass ihr Kind Abitur macht. Da gibt es in Hamburg zwei Möglichkeiten. Am Gymnasium kann das Abitur in zwölf Jahren erreicht werden und in der Stadtteilschule in 13 Jahren. In der Grundschulzeit werden die Grundlagen gelegt, um an der weiterführenden Schule erfolgreich zu sein. Ist ein Kind allerdings eher verspielt und hat noch Lücken, empfiehlt es sich von vornherein, ihm mehr Zeit zu geben.

Wenn das Kind merkt, dass es Defizite hat, verliert es mehr und mehr die Freude an der Schule und am Lernen. Die Eltern merken, dass ihr Kind den Anforderungen nicht gerecht wird, und versuchen mit aller Macht gegenzusteuern. Damit ist der Kreislauf eröffnet, und die Spirale wird für das Kind immer enger. Aber es gibt noch die Chance der Rückläuferklasse.

Sabine Steinfeldt
Sabine Steinfeldt leitete als Klassenlehrerin eine sogenannte Rückläuferklasse über Jahre an der Stadtteilschule Eidelstedt. © privat | Privat

Die Corona-Zeit war ein schwerer Einschnitt für die Kinder. Ohne Frage. Doch wenn ein Kind nach der vierten Klasse weder die Grundrechenarten noch die Grundlagen der Rechtschreibung beherrscht, dann ist es unverständlich, dass Eltern dennoch darauf bestehen, dass das Kind das Gymnasium besucht.

Schule Hamburg: Lehrerin verrät, warum Stadtteilschule immer noch als zweite Wahl angesehen wird

Am Gymnasium wird erwartet, dass das Kind weitestgehend gelernt hat, wie man lernt. Wenn sich schon nach der fünften Klasse alles um die Schule dreht, dann sollte das zu denken geben. Das Thema Schule soll kein Dauerthema sein, und der ewige Druck, der sich sowohl in der Schule als auch zu Hause mehr und mehr verstärkt, macht das Kind krank.

Die Stadtteilschule hat neben dem Gymnasium ihre absolute Gleichberechtigung und muss dennoch immer noch darum kämpfen, nicht als Schule zweiter Wahl angesehen zu werden. Das Lernprinzip an der Stadtteilschule ist ein anderes. Hier finden sich alle Kinder wieder, und sie werden mit ihren Stärken und ihren Schwächen gesehen. An der Stadtteilschule werden alle Abschlüsse ermöglicht, und es findet eine umfangreiche Berufsberatung statt.

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Schon immer wurden Rückläufer an der Stadtteilschule aufgenommen. Seit es jedoch die Rückläuferklasse gibt, haben Kinder, die am Gymnasium nicht mehr zurechtkommen, die Möglichkeit nach dem Jahrgang sechs gemeinsam nahtlos in die 7. Klasse zu kommen. Die Kinder merken schnell, dass sie in der neuen Klasse plötzlich nicht mehr diejenigen sind, die wenig verstehen. Sie merken, dass sie sich trauen können, den Finger zu heben, und dass das, was sie sagen, zu Anerkennung führt. Sie bekommen Schritt für Schritt mehr an Selbstbewusstsein zurück.

Schule Hamburg: Rückläuferklassen in Hamburg sind homogener – ein großer Vorteil der Stadtteilschule

Der Druck fällt ab und viele werden bessere Zensuren nach Hause bringen. Dauernder Frust und Niederlagen sind kontraproduktiv für Lernlust und die Freude und Bereitschaft, sich Neues anzueignen. Aber genau darauf kommt es an, wenn die Schulzeit eine gute sein soll. Und die Belegschaft der Stadtteilschule leistet viel, um den Wiederaufbau von Freude, Selbstvertrauen und Lernbereitschaft zu ermöglichen.

Normalerweise sind an der Stadtteilschule Kinder in einer Klasse, die sehr unterschiedliche Lernvoraussetzungen haben. Das ist in einer Rückläuferklasse anders. Die Kinder haben bereits zwei Jahre am Gymnasium hinter sich und haben dadurch schon eine gewisse Prägung. Das ist ein großer Vorteil und macht auch für die Lehrer und Lehrerinnen das Unterrichten in dieser Klasse besonders.

Lehrerin aus Hamburger Schule: Rauerer Ton an Stadtteilschule kein Grund für Stigma

Wenn Eltern fürchten, dass ihr Kind sein soziales Umfeld verlassen muss, so ist diese Furcht meistens unbegründet, denn Kinder passen sich in der Regel schnell an ihr neues soziales Umfeld an. Alte Freundschaften können ja trotzdem fortbestehen und neue werden geschlossen.

Aber natürlich werden die ‚Rückläuferkinder‘ auch schnell merken, dass vieles an einer Stadtteilschule anders ist als am Gymnasium: Der Ton auf dem Schulhof kann auch schon mal rauer sein. Das ist unbestritten, doch es ist kein Grund für eine Stigmatisierung der Stadtteilschule. Die Stadtteilschule spiegelt in der Vielfalt, die sie bietet, das Leben. Und dennoch ist sie ein geschützter Raum, denn nicht nur die LehrerInnen, sondern auch ErzieherInnen und SozialpädagogInnen sorgen mit viel Engagement dafür, dass jedes Kind gesehen wird.

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Weder ein Gymnasium noch eine Stadtteilschule können allerdings das leisten, was Eltern heute oft verlangen: Die Schule ist nicht alleine für die Erziehung des Kindes zuständig. Eltern haben durchaus immer noch die Aufgabe, den schulischen Weg ihres Kindes zu begleiten. Dazu gehört, dass das Einmaleins und die Rechtschreibung geübt wird, dass Vokabeln abgefragt werden, dass Aufgaben kontrolliert werden etc.

Hamburger Lehrerin: Rückläuferklasse für ein am Gymnasium gescheitertes Kind eine Chance

Auch wenn schon viele Aufgaben bereits in der Schule erledigt werden, so können diese Pflichten dennoch niemals entfallen. Da ist es auch keine Entschuldigung, dass man als Eltern voll arbeiten muss. Das gehört zur Verantwortung für das eigene Kind.

Eine Rückläuferklasse ist für ein am Gymnasium aus welchen Gründen auch immer gescheitertes Kind eine gute Chance für einen Neustart. Ein schulisches Versagen hat immer seine Ursachen, und Gegendruck wird dem verzweifelten Kind niemals nützen. Eltern, die einen Schulwechsel als Stigmatisierung empfinden, helfen ihrem Kind damit nicht. Wichtig ist es, dem Kind Unterstützung, Kraft und Selbstvertrauen zu geben.“