Hamburg. Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi über die Lage in Syrien, den richtigen Umgang mit den Rebellen und die Folgen für den Nahen Osten.

Matthias Iken: Das Terrorregime von Machthaber Baschar al-Assad in Syrien ist Geschichte. Erwarten Sie jetzt eine Wende zum Besseren oder eher den staatlichen Zerfall wie schon in Libyen oder dem Irak?

Klaus von Dohnanyi: Ich denke, wir sollten das Ende des Assad-Regimes im größeren Zusammenhang mit den tiefgreifenden Veränderungen im Nahen Osten während der letzten Jahre verstehen. Der terroristische Überfall der Hamas auf den Grenzbereich Israels, die Ermordung, Verschleppung und fortdauernde Geiselhaft von Israelis durch die Hamas und ihre Helfer haben Israel herausgefordert. Das alles hat im Ergebnis zu neuen Machtstrukturen im Nahen Osten geführt: Israel hat seine Gegner geschlagen oder mindestens deutlich geschwächt; Iran und seine Verbündeten, insbesondere die Hisbollah im Libanon, sind die Verlierer – und mit ihnen Russland! Baschar al-Assad floh nach Moskau, aber dort wird er sicher bald auch zur Belastung. Für die weitere Entwicklung in Syrien ist entscheidend, ob und wie sich die neue Führung ihrer terroristischen Wurzeln entledigen kann. Dabei sollten wir versuchen, behilflich zu sein. Ein Vertrauensvorschuss ist da manchmal hilfreich!

Iken: Warum kommt der Nahe und Mittlere Osten seit Jahrzehnten nicht auf die Beine? Wirken die kolonialen Fehlentscheidungen bis heute nach?

Dohnanyi: Geschichte ist oft ein mächtiger Faktor in der Gegenwart: Jedenfalls haben die Kolonialmächte zunächst verhindert, dass sich im Nahen Osten ein regionaler Hegemon, eine Vormacht aus der Region, herausbilden konnte. Oder? Vor gut 100 Jahren zogen ein Engländer namens Mark ­Sykes und ein Franzose namens François Georges-Picot im Auftrage ihrer Regierungen die Grenzen für die kolonialen Mandatsgebiete Syrien und Palästina: Syrien den Franzosen, Palästina den Briten. Eine eigenverantwortliche Selbstverwaltung gab es damit für Syrien nicht, aber die jüdische Migration aus allen Teilen der Welt schuf in Palästina bald Fakten, die dann zur Mitte des 20. Jahrhunderts den demokratischen jüdischen Staat Israel entstehen ließen: Heute ist Israel unbestreitbar militärisch die mächtigste Kraft im Nahen Osten. Entstand also doch ein Hegemon aus der Region – nämlich Israel? Dann war die Entscheidung von Sykes/Picot für das britische Mandat Palästina doch keine „Fehlentscheidung“?

Iken: Zurück in die Gegenwart. Wie kann heute eine zeitgemäße Lösung für die Region aussehen?

Dohnanyi: Ich kann mich im Augenblick nicht erinnern, ob Sie mir diese Frage nicht schon vor einigen Jahren mal gestellt haben – jedenfalls hätte ich sie damals sicher anders beantwortet als heute. Israel schien mir damals existenziell gefährdet. Heute sehe ich das anders: Denn nun führt aus meiner Sicht kein Weg an Israel als stärkste Kraft der Region vorbei. Zugegeben, viele Fragen sind offen: die Zukunft der Palästinenser von Gaza bis ins Westjordanland und damit die Beziehungen Israels zu den arabischen Staaten und der Türkei. Um Ihnen direkt zu antworten: Eine zeitgemäße Antwort kann es nur mit Israel an zentraler Stelle geben – doch wird Israel innenpolitisch dazu bereit und in der Lage sein? Meine Hoffnung ist, dass ein Land, das sich in der Gefahr als so stark erwiesen hat, nun auch die Kraft für Verständigungen aufbringen kann. Also: Wir benötigen eine Zwei-Staaten-Lösung, Israel und einen Staat für die Palästinenser und die Verständigung auch mit den neuen Kräften in Syrien. Ohne Israel kann es im Nahen Osten zukünftig keine „Lösung“ geben.

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Iken: Was erwarten Sie nun von der US-Außenpolitik?

Dohnanyi: Man sollte sich in Washington mehr auf die Region Naher Osten und hier weniger auf die geopolitische Auseinandersetzung mit Russland konzentrieren. Das eine wird dem anderen dann ohnehin folgen. Man sollte also dem neuen Anführer der Regierung in Syrien, Mohammed al-Baschir, den „benefit of the doubt“ gewähren, wie es im Englischen so nahezu unübersetzbar heißt. Man sollte ihn im Zusammenhang mit seinen Entscheidungen und vielleicht weniger seiner Sprache betrachten, die natürlich in erster Linie für seine Anhänger formuliert sein wird. Zugleich muss man allerdings auf der Hut sein, dass nicht in Syrien ein Ableger des Islamischen Staates entsteht: Es ist ein Drahtseilakt.