Hamburg. Gericht: „Notwehr hat ihre Grenzen.“ Angeklagter hatte argumentiert, dass er selbst zuvor verletzt wurde. Warum Richterin das anders sieht.

Es hätte eine fröhliche Silvesterfeier werden können. Doch dann kippte die Stimmung. Und zuletzt grenzte es fast an ein Wunder, dass niemand an diesem Tag bei einer Auseinandersetzung an der U-Bahn-Station Dehnhaide gestorben ist. Aber drei Menschen wurden erheblich verletzt – unter anderem jener Mann, der sich jetzt für ein Verbrechen am Neujahrsmorgen des Jahres 2023 vor Gericht verantworten musste. Der 44-Jährige war angegriffen worden, hatte schließlich auf seine zwei Kontrahenten geschossen. Er hatte so lange den Abzug seiner Waffe betätigt, bis nach sechs Schüssen keine Kugel mehr übrig war.

Prozess Totschlag Dehnhaide
Dem Angeklagten (zweiter von rechts) wurde versuchter Totschlag vorgeworfen.  © Bettina Mittelacher | Bettina Mittelacher

Jetzt erging das Urteil gegen den Angeklagten im Prozess vor dem Schwurgericht: Sechs Jahre und drei Monate Freiheitsstrafe unter anderem wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung verhängte die Kammer gegen Mehmet H. „Es gab keine Notwehrlage“, betonte die Vorsitzende Richterin in der Urteilsbegründung. Zwar habe es vorher einen Streit und eine körperliche Auseinandersetzung zwischen dem späteren Schützen und den beiden Opfern gegeben. Und der 44-jährige Mehmet H. hatte auch Verletzungen davongetragen und sich zur Wehr gesetzt. Allerdings habe es nach dieser Auseinandersetzung „eine Zäsur gegeben“, erklärte die Richterin, in der sich die Situation zumindest kurzzeitig beruhigt hatte. Erst dann habe Mehmet H. auf die beiden Männer, zwei Brüder, geschossen.

Schießerei am U-Bahnhof zu Silvester: Lange Haftstrafe für Täter

Dies habe der 44-Jährige „aus Wut und Zorn“ getan, weil er sich durch die Verletzungen provoziert gefühlt habe. Nun habe Mehmet H. „sich dazu hinreißen lassen“ zu schießen. „Notwehr hat ihre Grenzen“, machte die Richterin deutlich. Sie sei nur so lange gerechtfertigt, wie ein Angriff noch im Gange sei.

Allerdings erkannte das Gericht auf einen minderschweren Fall des versuchten Totschlags, weil Mehmet H. von den späteren Opfern „zum Zorn gereizt“ und sofort zur Tat „hingerissen“ gewesen sei. Strafschärfend sei indes unter anderem zu werten, dass sich die Tat in der Öffentlichkeit, an einer U-Bahn-Station, abgespielt hatte. Die Staatsanwaltschaft hatte für den Angeklagten neun Jahre Freiheitsstrafe beantragt, die Verteidigung auf einen Freispruch plädiert, weil die Tat durch eine Notwehrsituation gerechtfertigt gewesen sei. Eines der beiden Opfer hatte unter anderem eine Brustverletzung davongetragen. Der andere war schwer am Oberschenkel verletzt worden. Geschossen hatte der Täter mit einem Schreckschussrevolver, der allerdings zu einer scharfen Waffe umgebaut und mit Patronen bestückt worden war.

Prozess Hamburg: Erst ein Streit, dann Beleidigungen, dann Schläge und Schüsse

Der Täter und die beiden Opfer kannten einander vor der schicksalhaften Begegnung an jenem Neujahrsmorgen nicht. Warum sie miteinander in Streit geraten waren, konnte letztlich nicht sicher geklärt werden. Die beiden Brüder seien, als sie an der U-Bahn-Station auf Mehmet H. trafen, „in aggressiver Grundstimmung gewesen“, so die Vorsitzende. Möglicherweise hätten sie Mehmet H. auch um Feuer für eine Zigarette gebeten. Es sei zum Streit gekommen, dann zu Beleidigungen und schließlich einer körperlichen Auseinandersetzung, in deren Verlauf möglicherweise auch die Lebensgefährtin von Mehmet H. angerempelt worden ist. Die Frau kam jedenfalls zu Fall.

Nun eskalierte die Auseinandersetzung, es gab Schläge, auch mit einer Glasflasche. Mehmet H. wurde verletzt, setzte dann ein Messer ein. In dieser Phase der Konfrontation könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Messerstiche, die der 44-Jährige gegen die Brüder einsetzte, noch zur Verteidigung dienten, sagte die Richterin. Dann aber habe sich Mehmet H. von den beiden Brüdern entfernt, die Situation habe sich „etwas beruhigt“. Nun aber habe der Angeklagte beschlossen, die „Sache nicht auf sich beruhen zu lassen“. Jetzt habe er den Revolver eingesetzt, von dem er gewusst habe, dass die Schreckschusswaffe so verändert war, dass man scharfe Patronen verfeuern kann.

Schusswaffe wurde in Postkasten „entsorgt“, dann von der Polizei sichergestellt

So habe der 44-Jährige „in schneller Folge alle sechs Patronen in Richtung der Brüder“ abgeschossen, fasste die Richterin die damaligen Ereignisse zusammen. Es sei Mehmet H. darauf angekommen, seine Kontrahenten zu treffen und sie zu verletzen. Dabei habe er auch in Kauf genommen, dass sie sterben könnten. Die Schusswaffe wurde zunächst in einem Postkasten „entsorgt“, in dem sie schließlich von der Polizei sichergestellt wurde.

Beide Opfer waren im Krankenhaus behandelt worden. Mehmet H. selber, der bei der körperlichen Auseinandersetzung ebenfalls Verletzungen davongetragen hatte, war noch in der Nacht des Jahreswechsels zu einem Bekannten gefahren, der seine Verletzungen versorgte. Dann hatte sich der 44-Jährige in die Türkei abgesetzt, wo er später aufgrund eines europäischen Haftbefehls festgenommen und nach Deutschland ausgeliefert worden war.

Im Prozess hatte der Angeklagte zunächst geschwiegen

Im Prozess hatte der Angeklagte zunächst geschwiegen, dann, am 33. Verhandlungstag, eingeräumt, dass er geschossen hatte. Dies habe er jedoch in Notwehr getan. Von dem Revolver habe er nicht gewusst, dass dieser mit scharfer Munition geladen gewesen sei. Er habe lediglich mehrfach „in die Richtung“ der Brüder geschossen.

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Der Prozess hatte mehr als ein Jahr gedauert und 44 Verhandlungstage in Anspruch genommen. In diesem Zusammenhang übte die Vorsitzende deutliche Kritik an der Verteidigung, die das Verfahren unter anderem mit besonders intensiver Befragung von Zeugen, von denen manche an mehreren Verhandlungstagen gehört wurden, in die Länge gezogen habe. „Und manchmal“, so formulierte es die Vorsitzende Richterin, „hatte man das Gefühl: Es gab eine Lust der Verteidigung an purer Provokation.“