Hamburg. Die Entchristlichung des Landes schreitet ungebremst voran. Doch was gewinnen wir, wenn wir den Glauben verlieren?

Zu Heiligabend ist alles noch wie früher – wenn es dunkel wird in Deutschland, schminkt sich das Land christlich, strömt in die zahlreichen Kapellen, Kirchen und Kathedralen, stimmt die alten Lieder an, und manche wärmen sich an der Geschichte vom heiligen Kind in der Krippe. Spätestens nach Weihnachten ist es mit der Seligkeit vorbei.

Die Kirche ist zum Dienstleister für gefühlige Accessoires geschrumpft, für die gelungene Trauung, die würdige Beerdigung und gelegentlich eine schöne Taufe. Für das Leben benötigt eine große Mehrheit sie nicht mehr.

In Deutschland leben inzwischen mehr Konfessionslose als Christen

Im vergangenen Jahr überstieg die Zahl der Konfessionslosen erstmals die der katholischen und evangelischen Christen. Die römisch-katholische Kirche hatte Ende 2023 rund 20,3 Millionen Mitglieder, rund 24 Prozent der Gesamtbevölkerung, die evangelischen Kirchen der EKD kamen auf rund 18,6 Millionen Mitglieder oder 21,9 Prozent. Der Anteil der Konfessionslosen lag bei 46,2 Prozent.

Noch vor zwei Generationen wären derlei Zahlen undenkbar gewesen. Entweder man war evangelisch oder katholisch, alles andere klang exotisch. Heute hingegen gilt als Exot, wer aktiv seinen Glauben bekennt. In atemberaubender Geschwindigkeit und schneller als viele andere Länder hat sich Deutschland vom Christentum abgewandt.

„Da bröckelt nichts, da rauscht etwas in die Tiefe“

„Aus der Erosion des Glaubens ist eine endzeitliche Krise geworden, an deren Ende der Zusammenbruch des christlichen Lebens in Deutschland stehen könnte. Da bröckelt nichts, da rauscht etwas in die Tiefe“, schreibt Tobias Haberl in seinem unbedingt lesenswerten Buch „Unter Heiden“ (btb, 22 Euro). Der Autor der „Süddeutschen Zeitung“ beschreibt ehrlich, offen und klug vom Gefühl, „Teil von etwas zu sein, das sich in Auflösung befindet“. Er hadert mit einem „Epochenwechsel historischen Ausmaßes, an dessen Ende sich ein christliches in ein nicht christliches Land verwandelt haben wird“. Auf 144 Seiten Koalitionsvertrag, so Haberl, taucht das Wort Christ ein einziges Mal auf – als Teil des Namens Christian.

Klar ist: Den über Jahrzehnte gelebten, miterlebten und vorgelebten Glauben von Elternhaus, Schule, Kommunions- oder Konfirmandenunterricht gibt es nicht mehr. Der Kirche sind die Schafe davongelaufen, zum Teil wurden sie vertrieben, etwa durch den Missbrauchs-Skandal. Zugleich liegt aber auch ein moderner Kulturkampf in der Luft. Über die Kirche darf man alles schreiben, nur nichts Positives, so Haberl. Man erinnere sich an die Geschichtsvergessenheit des Auswärtigen Amtes, das aus Anlass des G7-Gipfels in Münster das Kreuz aus dem Friedenssaal entfernen ließen, dem Ort, wo der 30-jährige Krieg beendet wurde. Die G7 das sind: USA, Großbritannien, Italien, Frankreich, Kanada, Deutschland und Japan.

Viele reduzieren Kirche und Glaube auf Verfehlungen und Scheinheiligkeit

Wir sind schon komisch – auf der einen Seite weltoffen bis zur Schmerzgrenze, auf der anderen vernagelt und blind für das Eigene. Wir lieben das Andere und verachten uns selbst. Toleranz aber verlangt einen Standpunkt. Wer keine Wurzeln hat, bleibt irgendwann entwurzelt zurück. Es geht nicht darum, dass alle zurück zum Glauben und zur Kirche finden. In einer aufgeklärten Gesellschaft ist Religionskritik so wichtig wie richtig. Aber wir schütten das Kind mit dem Bade aus.

Die Auseinandersetzung mit der Religion ist einer Trägheit gewichen, das Interesse einem Desinteresse, die kritische Offenheit einer unkritischen Ablehnung. Viele reduzieren Kirche und Glaube auf Verfehlungen und Scheinheiligkeit. Damit aber macht man sich die Debatte zu einfach.

Irgendwann verstehen wir unser Land nicht mehr

Irgendwann verstehen wir weder unser Land noch unsere Gesellschaft mehr, wenn alle Traditionsketten reißen und alle jahrhunderttiefen Imprägnierungen verschwinden. Dann verkommt Bachs Weihnachtsoratorium zur leeren Glühwein-Hintergrundmusik; Tieck, Novalis oder Brentano verlieren ihre Tiefe; ohne die Kirchen büßen unsere Städte ihre Lesbarkeit ein. Selbst das deutsche Wirtschaftswunder ist eng mit dem protestantischen Arbeitsethos verwoben. Gehen der wirtschaftliche Niedergang und der des Glaubens Hand in Hand?

Vielleicht sollten wir uns mit derselben Offenheit, derselben Neugier, mit der wir die Welt jenseits unseres Tellerrands entdecken, einmal nach innen wenden. Wer ist dieser Jesus Christus – geboren in einer Krippe, nicht in einem Palast? Wer ist dieser Sohn Gottes, dessen Geburt armen Hirten auf dem Felde und nicht den Hochwohlgeborenen in der Stadt verkündet wird? Wer ist dieser menschgewordene Gott, der Feindesliebe predigt und sich mit den Ausgestoßenen und Vergessenen umgibt?

Was verlieren wir, wenn Gott stirbt?

Wie hat er unser Leben, wie unser Land geprägt? Wie viel Halt finden wir Sinnsuchenden, Orientierungslosen, Verunsicherten in seinen Botschaften? Was liegt an Gutem, Hoffnungsstiftendem und Mutmachendem im Glauben? Und welcher Zusammenhalt, welche Solidarität lässt sich in der Gemeinschaft der Gläubigen erfahren? Stellen wir zur Abwechslung einmal nicht die Frage, was wir gewinnen, wenn wir Gott überwinden, sondern was wir verlieren, wenn Gott stirbt.

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Vielleicht hatte Novalis doch recht: „Wo keine Götter sind, walten Gespenster.“