Hamburg. Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi verteidigt den Kanzler gegen Kritiker aus der eigenen Partei: „Schwierigste Koalition“ seit 1949.

Jede Woche stellt sich der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi den Fragen des stellvertretenden Abendblatt-Chefredakteurs Matthias Iken.

Matthias Iken: Die SPD stürzt sich gerade in die Krise. Können Sie den Streit um die Kanzlerkandidatur nachvollziehen – schließlich stellt die SPD ja den Kanzler?

Klaus von Dohnanyi: Die SPD hat bei der Wahl 2021 mit 25,7 Prozent der abgegebenen Stimmen 206 Sitze im Bundestag gewonnen. Bei der Wahl im nächsten Februar werden es schon deswegen weniger Sitze sein, weil der Bundestag verkleinert werden wird. Außerdem ist, beachtet man die heutigen Umfragen, nicht zu erwarten, dass der Stimmanteil der SPD wieder so hoch sein wird wie 2021. Als Folge wird die SPD vermutlich weniger Abgeordnete in den Bundestag entsenden. Verständlicherweise fürchten zahlreiche Abgeordnete der SPD, dass sie am 23. Februar 2025 ihren Sitz verlieren könnten. Aber angesichts der Beliebtheitswerte von Boris Pistorius in den Umfragen meinen sie, er könnte am 23. Februar mehr Stimmen holen als Olaf Scholz. Und das wäre auch für die eigenen Chancen der Wiederwahl besser. Dass Abgeordnete so denken, ist üblich und vermutlich ein wichtiger Grund, warum manche Pistorius als Kanzlerkandidaten vorziehen würden. Natürlich gibt es auch SPD-Politiker, die Pistorius einfach besser, führungsstärker und weniger verbraucht finden.

Hamburgs ehemaliger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (l.) und Matthias Iken, stellvertretender Chefredakteur des Hamburger Abendblatts.
Hamburgs ehemaliger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (l.) und Matthias Iken, stellvertretender Chefredakteur des Hamburger Abendblatts. © Sven Simon/Andreas Laible / imago images/HA | Unbekannt

„Charakterlich hat er sich selbst durch sein Zögern kein gutes Zeugnis ausgestellt.“

Iken: Hätte Boris Pistorius nicht von sich aus alle Spekulationen beenden müssen?

Dohnanyi: Pistorius ist ein sehr erfahrener und erfolgreicher SPD-Politiker. Er war zwar bisher noch nicht „Chef“ einer Landesregierung wie einst Olaf Scholz. Aber er war Innenminister eines großen Flächenlandes und auch als Bürgermeister der Stadt Osnabrück erfolgreich. Er wäre fachlich durchaus qualifiziert für das Amt des Bundeskanzlers. Dass auch er sich selbst für qualifiziert hielt und hält, war nach seiner Amtszeit als Bundesminister der Verteidigung sehr nachvollziehbar. Aber den amtierenden Bundeskanzler Olaf Scholz im bereits laufenden Wahlkampf als SPD-Kanzlerkandidat ablösen zu wollen, war ein politisch-handwerklicher Fehler. Das hätte er dann früher, klarer und mutiger machen müssen. So hat er Scholz beschädigt – und auch sich selbst. Denn charakterlich hat er sich selbst durch sein Zögern kein gutes Zeugnis ausgestellt.

Iken: Zeigt die Debatte, dass Umfragen inzwischen wichtiger sind als die Politikgestaltung? Geht es wenig um Inhalte, aber viel um Stimmungen?

Dohnanyi: Scholz hatte all die schwierigen Probleme der Ampel-Regierung auf seinen Schultern; und er ist nicht der größte Redner vor dem Herrn. Aber er hat die Arbeit der vermutlich schwierigsten Koalition seit Bestehen der Bundesrepublik in vielen Fragen zu einem guten Ergebnis gebracht. Wenn wir unsere größeren Nachbarländer betrachten, kann man ganz zufrieden sein. Jetzt sollte Pistorius mal aus sich heraustreten und den Kanzler deutlich loben, denn der hat doch die Zeitenwende eingeleitet. Das täte der Stimmung in der ganzen Republik gut! 

Dohnanyi: Verteidigungspolitik schließt auch Diplomatie mit ein

Iken: Es bleibt vage, wofür der Politiker Pistorius steht. Ist er eine Projektionsfläche für viele Wünsche der Sozialdemokratie?

Dohnanyi: Ich war insofern unzufrieden mit Pistorius, weil aus meiner Sicht zur Verteidigungspolitik ein umfassendes Sicherheitskonzept gehört, dass nicht nur Waffen, sondern eben auch Diplomatie einschließt. In dieser Beziehung habe ich viel von Helmut Schmidt gelernt, der immer auch die Interessen der Gegenseite (damals natürlich immer auch Russland) berücksichtigt sehen wollte. So verstehe ich ihn heute sogar besser als früher in meinen Amtszeiten: Stärke und Diplomatie, eigene Interessen und Verständnis für die Interessen der Gegenseite konnte man von ihm immer lernen.

Iken:  Welchen Kurs erwarten Sie in der Russland-Politik, sollte sich Pistorius durchsetzen? Früher war der 64-Jährige Mitglied der deutsch-russischen Freundschaftsgruppe des Bundesrats, heute ist er ein besonders scharfer Kritiker Putins.

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Dohnanyi: Die eigene Meinung zu ändern, ist unser aller gutes Recht. Sich zu irren, ist einfach – einen Irrtum einzugestehen, schon etwas schwieriger. Da habe ich an Boris Pistorius nichts auszusetzen. Einen Vorteil sehe ich indes bei ihm: Er versteht offenbar mehr von Russland als viele seiner Kollegen. Jetzt wünsche ich ihm nur noch vergleichbar gute Kenntnisse der USA. Er kann es dann ja erneut versuchen, jung genug für 2029 wäre er ja!