Hamburg. Hamburgs Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi fordert mehr Unabhängigkeit von Brüssel, um die deutsche Wirtschaft zu stärken.

Jede Woche stellt sich der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi den Fragen des stellvertretenden Abendblatt-Chefredakteurs Matthias Iken.

Matthias Iken: Die deutsche Wirtschaft wird auch 2024 bestenfalls stagnieren. Wo sehen Sie die Hauptursachen der Misere?

Klaus von Dohnanyi: Ganz offenbar sind wir auf dem Feld der digitalen industriellen Dienstleistungen nicht so wettbewerbsfähig, wie wir das bisher im klassischen Feld der Industrieprodukte waren. Die Digitalisierung gewinnt eine immer beherrschendere Rolle. Hier werden wir langsam, aber sicher als Europäer von den USA und wohl auch von den Chinesen abgehängt. Das, so glaube ich, hängt wiederum damit zusammen, dass es bei uns den Zusammenhang zwischen der modernen Waffenentwicklung und ihrer zivilen industriellen Verflechtung nicht gibt. Schließlich sollte man nicht vergessen, dass das Silicon Valley im Ursprung eine militärische Gründung war. Also eine erste Antwort: Europa „genießt“ kaum die Ernte militärischer Nebenprodukte für den zivilen Sektor, wie das die USA ganz unverhohlen zeigen: Auch Tesla wäre ohne die enge und offene Zusammenarbeit des Unternehmers Elon Musk mit der Nasa wohl kaum möglich gewesen.

Klaus von Dohnanyi: „Das Geld wird immer knapper“

Iken: Hat die Bundesregierung in dieser Krise schnell und mutig genug gehandelt? 

Dohnanyi: Früher hat sie das. Als es zum Beispiel um Betriebsschließungen während der Corona-Pandemie ging, hat Deutschland in Europa fast vorbildlich mit Kurzarbeit und ähnlichen Modellen geantwortet. Das galt auch 2008 während der Finanzkrise, als Kanzlerin Merkel und Peer Steinbrück als Bundesfinanzminister mutig und spontan Garantieerklärungen für die Bankeinlagen abgaben, die weit über ihre Zuständigkeiten hinausgingen. An schnellem, mutigem Handeln fehlte es also nicht. Jetzt allerdings zeigen sich unnötige Streitigkeiten der Koalitionsparteien in aller Öffentlichkeit. So geht der Eindruck von schnellen und mutigen Entscheidungen, die es auch heute gibt, leider verloren.

Zwei weitere Faktoren kommen hinzu: Das Geld wird immer knapper, und immer häufiger mischt sich die EU-Kommission ein und verhindert klare und schnelle Entscheidungen. Der Draghi-Bericht, über den wir hier kürzlich sprachen, setzt mit seiner schneidenden Kritik genau da an.

„Die Automobilindustrie ist besonders vom Strukturwandel betroffen“

Iken: Besonders die Autohersteller stecken in der Krise. Machen die in Europa geplanten Zölle gegen China alles noch schlimmer?

Dohnanyi: Die Automobilindustrie ist in besonderer Weise vom Strukturwandel unserer Gesellschaft betroffen: Sie ist ein wichtiger Verursacher des CO₂ Ausstoßes, aber zugleich das „Mobilitätszentrum“ unseres Lebens. Wenn wir den Klimawandel eindämmen wollen, brauchen wir unausweichlich neue Antriebsformen für das Auto, in erster Linie müssen wir auf den Elek­tromotor umstellen. Das aber kostet nicht nur viele 100 Milliarden Euro, es kostet auch Arbeitsplätze bei den Herstellern und Zulieferern. Es ist kein Wunder, dass sich jetzt politischer Widerstand regt, wenn die EU plant, ab 2035 keine neuen Verbrenner mehr zuzulassen. Deutschlands Industrie ist eng mit dem Auto verflochten. 

Iken: Was muss jetzt in Deutschland und Europa passieren?

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Dohnanyi: In Europa muss den Mitgliedstaaten nach meiner Überzeugung mehr Spielraum gewährt werden, wie jedes einzelne Mitglied der Gemeinschaft das gemeinsame Ziel der Klimapolitik erreichen will und kann. Wir sollten nie vergessen, dass auch Wettbewerbsfähigkeit in jedem Mitgliedstaat nur auf eine unterschiedliche Weise erreicht werden kann. Freiheit macht kreativ, und Kreativität ist der Schlüssel zum Erfolg in dieser weltweiten Konkurrenz. Dogmatische EU-Mehrheiten dürfen Deutschlands Wirtschaft nicht zerstören!