Hamburg. Das kleine Mädchen aus Hamburg passt auf eine Hand, als es unerwartet und viel zu früh zur Welt kommt. Monatelang bangen ihre Eltern um sie.
- Louisa kam als Extrem-Frühchen in der 24. Schwangerschaftswoche zur Welt.
- Die Früh- und Neugeborenen-Intensivstation des Altonaer Kinderkrankenhauses versorgt Frühgeborene ab 23 vollendeten Schwangerschaftswochen.
- Was Mutter und Kind im Krankenhaus erlebt haben.
Einfach ist es nicht für Lena Engermann aus Hamburg, diese, ihre Geschichte zu erzählen: Die Geschichte, wie das Leben zu ihrer Tochter kam. Louisa ist ein Extrem-Frühchen, ihre Mutter erzählt sie vor dem Welt-Frühgeborenen-Tag (17. November) im Perinatalzentrum Altona an diesem Sonntag. Manchmal stockt sie, einmal weint sie, immer hält sie durch. Daran hatte sich die Juristin aus Bahrenfeld gewöhnt. Ans Durchhalten, ans Dranbleiben. Nicht abzudriften ins Dunkel, jedenfalls nicht zu lange. Denn der Tag, an dem ihre Tochter das Licht der Welt erblickte, kam zu früh. Zu früh für die Tochter, aber auch für die Mutter: 24. Schwangerschaftswoche, 590 Gramm. Louisa ist eines von jährlich 60.000 zu früh geborenen Kindern.
Die Monate, die sie auf der Früh- und Neugeborenenintensivstation des Altonaer Kinderkrankenhauses im Perinatalzentrum (PNZ) Altona verbrachten, waren von extremen Gefühlen geprägt. „Ein Horrorszenario“, so beschreibt die heute 38-Jährige die Ereignisse um den Tag Ende April 2023. Wie aus dem Nichts habe sich ihr Leben der „Vorbild-Schwangeren“, die nicht mal mehr Salat isst, zu allen Vorsorgen bei der Gynäkologin geht, ihre 30 Stunden arbeitet und sich dann um ihren vierjährigen Erstgeborenen kümmert, geändert.
Frühchen Hamburg: Fruchtwasser tritt aus in der 24. Schwangerschaftswoche
„Die Ärzte, Krankenschwestern, Krankenpfleger sowie die gesamte Belegschaft der neonatologischen Station haben uns in dieser emotional belastenden Zeit beigestanden. Dabei haben wir uns nicht nur fachlich, sondern vor allem auch menschlich aufgehoben gefühlt.“ Die Früh- und Neugeborenen-Intensivstation des Altonaer Kinderkrankenhauses im PNZ versorgt Frühgeborene ab 23 vollendeten Schwangerschaftswochen. Im Mittelpunkt steht dabei ein familienzentrierter Ansatz mit Einbindung der Eltern in die Pflege der Kinder.
Kanzlei und Spielplatz weichen, desinfizierte Räume, Schutzkleidung und Inkubatoren mit piepsenden Geräten und Schläuchen bestimmen fortan ihren Alltag. Dabei hatte der Tag damals so gut angefangen: „Meine Schwester erwartete ein Kind, und als ich aufwachte in meinem Bett zu Hause, da habe ich gehofft, dass in unserer WhatsApp-Familiengruppe ein Foto ist“, erinnert sich Engermann. Und da war eines. „Ich bin noch einmal Tante geworden“, jubelte sie und lief freudestrahlend in die Küche, um ihrem Mann Jonas Engermann das neue Familienmitglied zu zeigen. „In dem Moment wurde es nass zwischen meinen Beinen“, sagte sie. „Blut.“
Vor der Geburt in Hamburg sechs Wochen liegen?
Sofort sagt Engermann bei der Arbeit ab, fährt ins Perinatalzentrum in Altona. „Aber ich dachte an nichts Schlimmes, bei der Schwangerschaft mit meinem Sohn war alles völlig normal, und ich hatte eine gute Geburt.“ Die Diagnose der Ärzte war dann erst einmal: Lena Engermann hat einen feinen Riss in der Fruchtblase, sodass Fruchtwasser austritt. Sie soll liegen, sechs Wochen, bis zur 30. Schwangerschaftswoche. So etwas hätten viele Frauen. „Ich erinnere mich noch, dass mir gesagt wurde von den Ärzten, dass jeder Tag, den das Kind im Bauch bleibt, zählt.“
Doch dann passiert das, was nicht passieren darf: Sie bekommt vorzeitige Wehen. „Das habe ich gar nicht gemerkt, und weil das Kind noch so klein war und sich im Bauch viel bewegt, ist es auch nicht einfach, das mit dem CTG einzufangen“, erklärt sie. Engermann merkt aber, dass die Ärzte nervös werden, es hektischer um sie herum zugeht.
Eine „halbe“ Schwangerschaft: Die Wehen kommen, die Herztöne fallen immer wieder ab
Die Herztöne ihres ungeborenen Kindes fallen in den Wehen immer wieder ab. Nach einer Nacht mit sehr starken Medikamenten, die die Wehen hemmen sollen, was bei Engermann extremes Herzrasen auslöst und die Sauerstoffversorgung des Kindes nicht mehr gut ist aufgrund des Stresses, wird entschieden: Kaiserschnitt mit 24 Schwangerschaftswochen. 172 Tage statt 280. Etwas mehr als eine halbe Schwangerschaft. Von einem „reifen Neugeborenen“ spricht man erst ab der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche.
„Abends um 20 Uhr ging es dann los“, sagt Engermann. „Davor hatten wir viele Gespräche, viel Aufklärung darüber, was mit unserem Kind sein kann, welche Hirnschäden es haben könnte, was für Behinderungen.“ Surreal für die Mutter, die froh war, dass die Oma den Sohn Joris zu sich nahm. „Was mir sehr geholfen hat, war, dass zufällig der gleiche Gynäkologe bei mir war, der auch schon die Entbindung von meinem Sohn begleitet hat“, sagt sie und lächelt, „was für ein Zufall, das hat mir Vertrauen gegeben.“
Er schafft auch die „hohe Kunst“ und entbindet die winzige Louisa mitsamt ihrer intakten Fruchtblase. Die gefürchteten Erschütterungen, die zu den verheerenden Gehirnblutungen und damit zu späteren Einschränkungen führen können, seien so mehr abgepuffert, erklärt Engermann. Auch, dass Louisa nicht transportiert werden musste in ein anderes Haus, sondern dass das Team aus Kinderärzten und Pflege der Früh- und Neugeborenen-Intensivstation an einer Durchreiche vom OP bereitstand, sei unbeschreiblich hilfreich gewesen.
Der „absolute Kontrollverlust“ setzte für die Mutter im Rollstuhl am Inkubator ein
„Alles in allem war es ein Horrorszenario, als ich dann zwei Stunden später im Rollstuhl sitzend an dem Inkubator stand“, sagt Engermann. Leiser: „Ich bin nicht davon ausgegangen, dass sie überlebt.“ Für sie setzt zu diesem Zeitpunkt „der absolute Kontrollverlust ein, ich habe mich gemartert mit Schuldgefühlen und hing in negativen Gedanken“, sagt sie. Ihre Ehrlichkeit hat einen Grund, der später noch eine tragende Rolle spielen soll.
In der Mutter macht sich währenddessen ein „fieser Cocktail“ breit, wie sie es selbst nennt: Eine Mischung aus Schuldgefühlen und postnataler Depression. „Ich dachte, sie wird sterben“, sagt Engermann, „ich hatte auch nicht realisiert, dass diese Schwangerschaft beendet ist. Es war völlig traumatisch, von einem Tag auf den anderen wurde mir mein Kind aus dem Körper herausgeschnitten.“ Kurz zuvor sei sie noch Gast auf einer Hochzeit gewesen, habe sich „super gefühlt“. Nun sollen die kommenden Wochen auf der Intensivstation ein Wegweiser für ein Überleben ihres Babys sein.
Und während das Extrem-Frühchen Louisa im Inkubator um sein Leben kämpft, ringen auch die Engermanns. Im Schichtsystem halten sie Wache bei ihrer Kleinen, begleitet von „einem fantastischen, zugewandten, empathischen und realistischen Team aus Ärzten, Schwestern, Stationsleitung.“ Mutter Lena Engermann ist jedoch zunächst so verunsichert, dass sie sich nicht einmal traut, ihre Hand in den Inkubator zu schieben, um die zarte Tochter zu berühren. „Ich hatte solche Angst, sie zu schwächen, falls ich etwas Infektiöses an mir gehabt hätte“, sagt Engermann. Ansatz des Perinatalzentrum ist es, den Eltern durch viele Gespräche nach und nach die Hemmungen und Ängste zu nehmen und die Eltern-Kind-Beziehung zu stärken, besonders durch das Einbeziehen der Eltern in die Versorgungsrunden.
Altonaer Kinderkrankenhaus: Für den Frühchen-Papa aus Hamburg gab es einen „magischen Moment“
Im Gegensatz zu Lena Engermann steht ihr Mann, der aus sich heraus überzeugt davon ist, dass seine Louisa es schaffen werde. „Einmal hat sie ganz zu Beginn seinen kleinen Finger ergriffen und fest zugepackt, von da an war mein Mann sich sicher, dass sie eine Kämpferin mit viel Kraft ist.“ Den „magischen Moment“ hat Jonas Engermann sogar mit seinem Handy festgehalten, ein Foto zeigt die Minifinger Louisas am surreal groß wirkenden kleinen Finger des Vaters.
Jeder Tag zähle, das haben die Ärzte den Eltern eingeimpft. Inhaltlich begleiten sie die Eltern eng, auf der Station besteht eine besondere, enge und herzliche Beziehung zwischen den Familien, dem Ärzte- und Pflegeteam. Es gibt Musiktherapeuten sowie psychologische Hilfe.
Es sei wie ein Marathon, er dauere lange, man brauche Ausdauer, erklären die behandelnden Ärzte. Man solle damit rechnen, dass auf einen Schritt vorwärts Rückschläge folgen könnten. Und dies trat ein. „Atemaussetzer gab es oft, dann die Hektik, wir mussten lernen, sie wieder zum eigenständigen Atmen zu bringen, wenn sie mit Hautkontakt auf unserer Brust lag“, erinnert sich Engermann. „Kräftig, beherzt musste dann der Rücken bearbeitet, stimuliert werden, eine Art drückendes Kraulen.“ Engermann atmet schwer ein. Und aus.
Alle zwei Tage wird die Kontroll-Sonografie am Schädel durchgeführt, um Hirnblutungen möglichst früh zu erkennen, da diese zu schweren Beeinträchtigungen führen können. „Das waren die unerträglichsten Momente, die Ärzte schauen auf diese Schwarz-Weiß-Bilder am Monitor, auf denen wir nichts erkennen konnten, und wir haben uns an den Händen gehalten und auf das erlösende Urteil gehofft.“
Schock für die Eltern: Ein schwarzer Fleck ist in Louisas Hirn-Sonografie zu erkennen
Einmal geht eine Untersuchung anders aus. „Eine Assistenzärztin hat beim Sono einen kleinen, schwarzen Fleck entdeckt, das war superschrecklich“, sagt Engermann und stockt bei der Erinnerung. „Mein Mann und ich sind dann an die Elbe gefahren und haben so geweint.“ Einige Tage später kommt dann eine Entwarnung, Louisa hat keine Hirnblutung.
Die Zeit auf der Frühchen-Intensivstation hinterlässt Spuren, natürlich. „Man ist ziemlich krass mit dem Tod konfrontiert.“ Engermann funktioniert in dieser Zeit so gut es geht. Sie kann nicht essen, muss aber alle zwei, drei Stunden Muttermilch abpumpen. „Das ist das Einzige, was ich geschafft habe, worauf ich stolz bin“, sagt sie und blickt zurück auf die Zeiten, in denen sie mit der an sie angeschlossenen Milchpumpe vor dem Inkubator saß. Sie ist mit den Gedanken immer bei Louisa, muss aber den vierten Kindergeburtstag ihres Joris planen und feiern. „Meinem Sohn gegenüber habe ich bis heute ein schlechtes Gewissen“, sagt sie, „er hat mich unheimlich oft weinen gesehen in der Zeit.“
Einmal darf Joris mitkommen und seine kleine Schwester, die immer entweder seine Mama oder sein Papa lange Stunden besuchen, sehen. Jede Woche hoffen sie auf Entwarnung, darauf, dass sich Louisa weiter stabilisiert, atmet, lebt. „Ich habe mich in dieser Zeit verloren gefühlt“, so Engermann, die nach vier Wochen gesagt bekommt, dass ihre Tochter überleben wird. Nur wie, mit welchen eventuellen Beeinträchtigungen sie zu kämpfen haben wird – niemand vermag das vorherzusagen. „Es waren unheimlich dunkle Stunden dabei. Ich hätte mir gewünscht, an etwas zu glauben, es ist nicht immer von Vorteil, rational zu sein.“ Und: „Ich stand wochenlang völlig neben mir, nach sechs Wochen habe ich das erste Mal realisiert, dass dieser komische Zustand kein Albtraum ist, sondern mein Leben.“
Hamburger Frühchen-Mutter: Warum ist mir das passiert? Was hätte ich anders machen können?
Während ihr Mann Optimismus zu versprühen vermag, schwappen über der Mutter weiter die Schuldgefühle und Pessimismus zusammen. Warum ist mir das passiert? Was hätte ich anders machen können? Hätte ich vorsichtiger sein müssen? Hätte ich öfter bei der Frauenärztin erscheinen sollen? Habe ich mich übernommen? „Es gab für dieses Geschehen einfach keine zufriedenstellende Antwort“, sagt Engermann, die mit den Ärzten wieder und wieder redet.
Man kann heraushören, dass sie lange gesucht hat und die Antwort noch nicht gefunden wurde. „Ich bin einfach immer wieder bei mir gelandet, habe Ursachenforschung bis zum Wahnsinn betrieben.“ Im Internet ist sie nachts unterwegs, sucht nach medizinischen Studien und Fachpublikationen. Sie wollte unbedingt eine Begründung finden. Auch, wenn der Rat von allen Ärzten und medizinischem Personal anders lautet und von der Suche im Internet abgeraten wird.
Dann lernt sie eine andere Frühchenmutter kennen, beim Anlegen der Schutzkleidung im Vorraum. „Diese andere Mama hatte eine völlig andere Art, damit umzugehen und hat mir außerdem etwas gezeigt, was mir unendlich geholfen hat“, sagt Engermann. „Richtiges Googeln.“ Engermann findet nun positive Erfahrungsberichte von anderen Eltern, liest, wie sich einstige Frühchen gut entwickelt haben. „Das habe ich teilweise mehrfach gelesen, regelrecht verschlungen, weil mir das solche Hoffnung und Kraft gegeben hat.“ Und das ist auch der Grund dafür, warum sie ihre Geschichte unbedingt teilen möchte: „Wenn nur eine Mama oder andere Eltern daraus Kraft oder Zuversicht schöpfen, dann ist es das schon wert gewesen.“
Ihre Tochter Louisa kommt nach drei Monaten Intensivstation auf die Überwachungsstation. Auch wenn ihr Baby weiterhin Sauerstoffsättigungsabfälle hat, trinkt die Kleine jetzt schon eigenständig an der Brust ihrer Mutter. „Mit der tollsten Stillberatung haben wir das geschafft“, sagt sie, „das war so heilsam.“
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Louisa wird in der 42. Woche der Schwangerschaft entlassen, so rechnet man. Vorher zeigen die Ärzte der Familie an einer Puppe, wie man einen Säugling wiederbelebt. Auch ein Monitor für die Überwachung zu Hause kommt mit. Es gibt dann noch Schreckmomente, eine Lungenentzündung, die sie wieder in die Klinik führt, aber alles in allem geht es Louisa gut: Mittlerweile entwickelt sie sich wie ein Baby „mit etwa einem Jahr“, wie ihre Mama es am liebsten ausdrückt. „Ich denke schon oft an diese Zeit auf der Intensivstation, besonders, wenn sie krank wird, dann bin ich schnell in Sorge“, sagt Engermann, „die Lunge, das ist ihre Schwachstelle.“
Louisa ist zart, klein, und nicht die Lauteste. Aber wenn sie mit anderen unterwegs ist, dann hat Engermann „die ganz normalen Babyprobleme“. Sie lacht. Dazu kommt der große Bruder Joris, der „super behutsam“ mit seiner Schwester umgeht. Der vier Jahre Ältere habe ihr gegenüber etwas „Beschützermäßiges“. Als ob er spüre, dass Louisas Start ins Leben besonders war.
Welt-Frühgeborenentag 2024 in Hamburg
Zum Welt-Frühgeborenentag öffnet das Altonaer Kinderkrankenhaus (AKK) seine Türen zur Kontaktaufnahme und zum Austausch: Am Sonntag, 17. November 2024 von 14 bis 17 Uhr, im Perinatalzentrum Altona, Paul-Ehrlich-Straße 1, 22765 Hamburg-Altona. Dabei sind Spitzenköchin Cornelia Poletto mit Kuchen und Gewürzschokolade, es gibt eine Hausführung im Perinatalzentrum, Musiktherapie und Stillberatung stellen sich vor, der Baby-Notarztwagen (Baby-NAW) wird gezeigt und für die Kinder gibt es einen Laternenumzug sowie Kinderschminken und Basteln.