Hamburg. Bereits 31 Opfer im Jahr 2024. Die Polizei Hamburg spricht von „atypischen Unfällen“. Neue Maßnahmen im Verkehr werden nicht allen gefallen.
Es ist eine dramatische Entwicklung: In diesem Jahr sind bereits 31 Menschen im Hamburger Verkehr zu Tode gekommen. Das ist der höchste Stand seit 2012, als im gesamten Jahr 33 Todesopfer zu beklagen waren. Das Abendblatt hat die zuständigen Behörden für Verkehr und Inneres (Polizei) und die beiden Regierungsfraktionen von SPD und Grünen gefragt, was sie tun wollen, um diese ungünstige Entwicklung zu bremsen. Denn im Koalitionsvertrag hatten sich SPD und Grüne das Ziel gesetzt, die Zahl der Verkehrstoten weiter zu senken – im Sinne der „Vision Zero“, nach der es irgendwann gar keine Todesopfer mehr geben solle.
Die Innenbehörde verweist in ihrer Antwort zunächst darauf, dass die Zahl von Verkehrstoten in längeren Betrachtungszeiträumen insgesamt gesunken sei. Waren es zwischen 2004 und 2013 noch durchschnittlich 34 Todesopfer pro Jahr, so ging diese Zahl zwischen 2014 und 2023 auf 26 zurück; rechnet man die Pandemiejahre 2020 und 2021 mit besonders wenig Verkehr heraus, so waren es 28.
Verkehr Hamburg: Polizei listet besonders ungewöhnliche tödliche Unfälle auf
Dafür, dass im laufenden Jahr aber schon jetzt eine überdurchschnittliche Zahl von 31 Toten zu beklagen ist, machen Innenbehörde und Polizei auch eine ganze Liste von „atypischen Unfallhergängen“ verantwortlich. Als Beispiele nennt die Behörde von Senator Andy Grote (SPD):
- Rastplatz Harburger Berge: Pkw-Fahrer kollidiert mit geparktem Auflieger. Der Pkw fing Feuer.
- Friedrich-Ebert-Damm: Pkw-Fahrerin fährt aus Waschanlage, gibt Vollgas und kollidiert mit Stahlträger.
- Wilhelm-Osterhold-Stieg: Fußgänger (Kind) an Bushaltestelle kommt beim Aufheben der heruntergefallenen Jacke zu Fall und wird vom Bus erfasst.
- Wegenkamp: Alkoholisierter Radfahrer fuhr bergab gegen einen Begrenzungszaun und stürzte ohne Fremdeinwirkung.
- Schiffbeker Weg: Verbotenes Kfz-Rennen zweier Pkw-Fahrer. Beide kollidierten mit abbiegenden Pkw, wodurch ein Mitfahrer (Kleinkind) tödlich verletzt wurde.
- A1, AS Harburg: Fußgängerin lief auf dem Verzögerungsstreifen und kollidierte mit dem dort fahrenden Pkw.
- Barcastraße: Alkoholisierter Pkw-Fahrer überfuhr beim Herausfahren aus der Tiefgarage einen schlafenden Mann.
- Jenerseitedeich: Motorradfahrer ohne Helm kollidierte mit Pedelecfahrer, wurde vom Motorrad abgeworfen und stieß mit dem Kopf gegen ein geparktes Fahrzeug.
- A1, AS Billstedt: Motorradfahrer befuhr den Zubringer auf die A 1, überfuhr die Sperrfläche, alle Fahrstreifen und kollidierte mit der Betonwand.
Die Polizei habe bei den bisher 31 tödlichen Unfällen zudem festgestellt, „dass ein Großteil insbesondere durch individuelles Fehlverhalten verursacht worden ist“, schreibt Innenbehörden-Sprecher Daniel Schaefer. „Die Ursache liegt hier oftmals in einer unkonzentrierten Teilnahme am Straßenverkehr oder im unachtsamen Betreten der Fahrbahn.“ Trotz des Anstiegs der Todeszahlen seien gleichzeitig „im ersten Halbjahr in Hamburg Unfälle mit Personenschäden im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 7,3 Prozent gesunken“, so Schaefer.
Verkehr Hamburg: Der Abbiegeassistent rettet Leben, wenn er denn eingebaut ist
Mit genauen Unfallanalysen, unterschiedlichen Verkehrssicherheitskampagnen und gezielten Geschwindigkeitskontrollen arbeite die Polizei kontinuierlich an der Verbesserung der Verkehrssicherheit, so die Innenbehörde. Zudem habe die Polizei Hamburg „immer wieder auf die hohe Bedeutung von technischen Abbiegeassistenzsysteme hingewiesen, die in vielen Fällen helfen, Unfälle zu vermeiden und damit Leben zu retten“.
Hamburg habe daher 2020 alle schweren Nutzfahrzeuge von Hamburgs Behörden und öffentlichen Unternehmen flächendeckend mit Abbiegeassistenzsystemen ausgerüstet. Auch mehrere private Unternehmen hätten sich zuletzt der Senatsinitiative angeschlossen. Für alle neu zugelassenen Fahrzeuge wurde der Einbau eines Abbiegeassistenten ab dem 7. Juli 2024 in der EU zur Pflicht, so die Behörde. „Insbesondere die Dienstgruppe Schwerlastverkehr führt diesbezüglich zielgerichtete Kontrollmaßnahmen und Schwerpunkteinsätze durch.“
Mehr tote Radfahrer in Hamburg: Verkehrsbehörde baut mehr geschützte Radstreifen
Die Verkehrsbehörde von Senator Anjes Tjarks (Grüne) versucht derweil, die Sicherheit für Radfahrer und Fußgänger dadurch zu verbessern, dass deren Wege baulich voneinander getrennt werden, auch von den Fahrstreifen des motorisierten Verkehrs. „2023 waren 67 Prozent der neu gebauten oder sanierten Radverkehrsinfrastruktur geschützte Infrastruktur in Form von Protected Bikelanes oder Fahrradstraßen mit Tempo 30“, so Verkehrsbehördensprecher Dennis Krämer.
Auch würden die als gefährlich geltenden „Radfahrstreifen in Mittellage“ nicht mehr geplant und bestehende für mehr Signalwirkung rot eingefärbt. Solche Maßnahmen scheinen auch dringend nötig: Im vergangenen Jahr und im laufenden Jahr hatte es schon bis Ende September jeweils neun getötete Radfahrer im Hamburger Verkehr gegeben, deutlich mehr als in den Vorjahren.
Verkehr Hamburg: Auf 58 Prozent der Straßen-Kilometer bereits Tempo 30
„Darüber hinaus versuchen wir zusammen mit unseren Partnern die Digitalisierung und modernde Technik dafür zu nutzen, die Verkehrssicherheit zu erhöhen“, so der Sprecher von Verkehrssenator Tjarks. „Nahezu alle Hochbahn-Busse sind mit Abbiegeassistenten ausgestattet, an Kreuzungen (etwa in der HafenCity) testen wir aktuell Bodenleuchten, die abbiegenden Kfz-Verkehr auf heranfahrende Radfahrende aufmerksam machen.“
Für mehr Sicherheit solle auch die Ausweitung von Tempo 30 sorgen, so Krämer. Derzeit seien in Hamburg rund 2300 von 4000 km Straßennetz (also rund 58 Prozent) Tempo-30-Strecken.
Grüne Hamburg: „Tempo 30 erhöht Verkehrssicherheit. CDU populistisch“
Die Grünen wollen trotz der aktuell schwierigen Zahlen am Ziel von null Verkehrstoten festhalten, dieses habe „für uns absolute Priorität“, sagte Grünen-Verkehrspolitikerin Rosa Domm. „Jedes einzelne Unfallopfer ist eines zu viel, und unser Mitgefühl gilt den Angehörigen der Opfer. Beim Kampf für mehr Verkehrssicherheit helfen jedoch keine populistischen Phrasen der CDU, sondern Maßnahmen, die nachweislich das Risiko senken, im Straßenverkehr zu sterben.“
Städte wie Helsinki zeigten, „dass eine reduzierte Geschwindigkeit von Autos und Lastwagen zu weniger Unfällen führt“, so Domm. „Tempo 30 erhöht also die Verkehrssicherheit. Aber gerade die CDU, die nun lautstark den Anstieg der Verkehrstoten beklagt, stellt sich ebenso laut gegen jede neue Tempo-30-Strecke in unserer Stadt.“
Polizei Hamburg: Mehr Blitzer, Anschnall- und Helmpflicht erhöhen Sicherheit
Mehr Blitzer und Geschwindigkeitskontrollen sorgen laut Domm dafür, dass bestehende Tempolimits auch eingehalten werden. Eine weitere zentrale Maßnahme sei die verstärkte Kontrolle des Drogen-und Alkoholkonsums von Verkehrsteilnehmern. „Ebenso wichtig sind verkehrsberuhigte Bereiche, in denen es erst gar nicht zu brenzligen Situationen kommt, und Schulstraßen, die wir vor einigen Wochen per Bürgerschaftsantrag ermöglicht haben und die für einen sicheren Schulweg sorgen“, so die Grünen-Politikerin.
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Auch SPD-Verkehrspolitiker Ole Thorben Buschhüter betonte, dass jeder Verkehrstote einer zu viel sei und die „Vision Zero“ weiterhin „handlungsleitend“ für die Koalition sei. Im lang- und mittelfristigen Trend sei die Zahl der Verkehrstoten in Hamburg rückläufig. „Dazu haben in den letzten Jahrzehnten heute völlig akzeptierte Maßnahmen wie Tempobeschränkungen und Tempo-30-Zonen, Anschnall- und Helmpflicht, aber auch Straßenplanungen im Sinne der Verkehrssicherheit beigetragen“, so Buschhüter.
SPD Hamburg: „Neue Straßenverkehrsordnung gibt mehr Möglichkeiten“
„Kürzlich wurde zudem die Straßenverkehrsordnung novelliert und gibt Städten und Kommunen nun mehr Möglichkeiten an die Hand, den Verkehr noch sicherer zu machen. Wir werden diese Möglichkeiten prüfen und geeignete Maßnahmen für die Verkehrssicherheit treffen.“ Am Ende gehe es jedoch „in erster Linie um gegenseitigen Respekt, Rücksichtnahme und Achtsamkeit“ aller Verkehrsteilnehmer, „damit der Verkehr insgesamt sicherer wird“.