Bad Salzdetfurth. Millionen Mädchen und Jungen wurden vor allem zwischen 1950 und 1980 wochenlang ohne ihre Eltern zur Erholung in Kinderheime geschickt. Viele von ihnen erlebten Traumatisches in den Kurorten.
In Erinnerung an das Leid Zehntausender Kurkinder ist im niedersächsischen Bad Salzdetfurth ein Mahnmal eingeweiht worden. Die Gedenkstele soll insbesondere an Stefan, Kirsten und André erinnern, die 1969 in der Kinderheilanstalt in der Kleinstadt im Landkreis Hildesheim ums Leben kamen. Der dreijährige André wurde damals in dem Heim namens Waldhaus von drei älteren Jungen totgeprügelt, der siebenjährige Stefan erstickte an Erbrochenem und Kirsten starb infolge einer Infektion.
Bei allen Todesfällen könne man zumindest ansatzweise Fahrlässigkeit unterstellen, heißt es in einer Studie, die die Diakonie dazu in Auftrag gab. Das Kurheim wurde von einer Vorgänger-Organisation der Diakonie betrieben.
Laut der 2019 gegründeten Initiative Verschickungskinder handelt es sich um die bundesweit erste Einweihung eines Mahnmals in Erinnerung an das Leid der Kurkinder. Auf der Stele steht der Bibelspruch: „Tu deinen Mund auf für die Stummen“. Geschätzte acht bis zehn Millionen Kinder im Alter von etwa zwei bis zwölf Jahren wurden zur Erholung wochenlang ohne ihre Eltern in Kurorte geschickte - viele kamen traumatisiert zurück. Besonders schlimm war es für die Jüngsten, sagte Anja Röhl, Gründerin der Initiative.
Viele ehemalige Kurkinder erzählten von rigiden Erziehungsmethoden im Waldhaus, sagte Hans-Joachim Lenke, Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen. Es habe dort eine „hartherzige Lieblosigkeit“ geherrscht, das Personal sei überfordert gewesen. „Ich kann Sie heute nur um Vergebung bitten“, sagte Lenke zu Betroffenen, die nach Bad Salzdetfurth gekommen waren.
Auch die Mutter und der Bruder des 1969 getöteten damals dreijährigen André nahmen an der Gedenkveranstaltung am Samstag teil. Die Mutter weinte. Nach Angaben des Bruders wurde über die Umstände von Andrés Tod sehr lange geschwiegen.
Sabine Schwemm verbrachte Ende 1968 als Vierjährige mehrere Wochen ohne ihre Familie im Waldhaus. Die Landeskoordinatorin der Initiative Verschickungskinder berichtete, eine Betreuerin habe sie damals zur Strafe für die Benutzung der Personaltoilette heftig verdroschen, allein in einen Keller gesperrt und damit gedroht, dass sie Weihnachten nicht nach Hause komme. „Ich hatte Todesangst und dachte, dass ich meine Eltern und meine Schwester nie wiedersehe.“ Sie sei anders als der getötete André davongekommen. „Was aber für immer blieb, war die Angst. Die Angst, die mir manchmal das Leben unerträglich machte.“
Rund 15 000 Berichte von Betroffenen aus ganz Deutschland hat die Initiative inzwischen gesammelt. Darin geht es unter anderem um Prügel, Redeverbot, Schlafzwang und Schikanen beim Essen. Was nach 1945 über Jahrzehnte in Kinderkurheimen an der Nordsee oder in Luftkurorten in den Bergen passierte, ist bislang nicht umfassend aufgearbeitet worden.
Inzwischen beschäftigen sich aber einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit den Hintergründen der Verschickungspraxis und den gesundheitlichen Folgen, unter denen traumatisierte ehemalige Kurkinder bis ins hohe Alter leiden. An diesem Mittwoch (20. März) ist eine öffentliche Anhörung im Familienausschuss des Bundestages zu dem Thema geplant.
Anlässlich der Einweihung des Mahnmals in Bad Salzdetfurth betonte Niedersachsens Sozialminister Andreas Philippi, dass es wichtig sei, aus der Vergangenheit zu lernen. Es habe sich um ein bundesweites Problem gehandelt, an dem verschiedenste Institutionen beteiligt gewesen seien. „Das Land Niedersachsen setzt sich daher weiterhin für eine Aufarbeitung auf Bundesebene ein“, betonte der SPD-Politiker.