Hamburg. 32-Jährige räumt vor Gericht Tat ein und entschuldigt sich bei Hinterbliebenen. Wie das Urteil ausfällt und was die Richterin sagt.

Jede Sekunde zählte. Der Mann hatte einen schweren Herzinfarkt erlitten. Ärzte kämpften um sein Leben und transportierten den 62-Jährigen zum Krankenhaus. Irgendwo auf den letzten Metern zur Intensivstation passierte es. Das Portemonnaie des Hamburgers verschwand. Jetzt ist klar: Der todkranke, hilflose Mann wurde bestohlen – und zwar von einer Frau, der eigentlich von Berufs wegen ganz besonders das Wohl von Patienten am Herzen liegen sollte. Denn Doris R. (Name geändert) ist Krankenschwester.

Jetzt ist im Prozess vor dem Landgericht das Urteil gegen die 32-Jährige ergangen. Wegen Diebstahls, Betrugs und Urkundenfälschung wird gegen die Krankenschwester am Dienstag ein Jahr und zehn Monate Freiheitsstrafe verhängt, dabei setzt die Kammer die Strafe zur Bewährung aus, die Bewährungszeit beträgt drei Jahre. Mit dieser Entscheidung mildert das Gericht ein früheres Urteil des Amtsgerichts ab. Gegen die ursprüngliche Entscheidung von zwei Jahren und vier Monaten Haft hatte die Angeklagte Berufung eingelegt.

Prozess Hamburg: Todkranker Mann bestohlen – auf dem Weg zur Intensivstation

Es sei ein „tragischer Fall“, ordnet die Vorsitzende Richterin das Geschehen in der Urteilsbegründung ein. Einem Menschen in einer hilflosen Lage sei Schaden zugefügt worden. Mit ihrer Tat habe Doris R. zudem Leid über die Angehörigen des Opfers gebracht. Sie hatten schon den Schmerz darüber zu ertragen, dass Reinhardt L. den Kampf um sein Leben wenige Tage nach der Einlieferung ins Krankenhaus verlor und starb. Und wenig später mussten die Geschwister des Hamburgers erfahren, dass sein Portemonnaie und damit unter anderem eine EC-Karte verschwunden war und jemand mehrfach unbefugt Geld vom Konto des 62-Jährigen abgehoben hatte. Mehr als 6000 Euro waren unwiederbringlich weg. Zwei Taten, bei denen insgesamt 1860 Euro abgehoben worden waren, konnten der Angeklagten zugeordnet werden.

Prozess todkranker Patient bestohlen
Die Geschwister des Verstorbenen, Christine J. und Bernd L., verfolgten den Prozess.  © Bettina Mittelacher | Bettina Mittelacher

Doris R., eine zarte Frau mit langem Zopf, hatte die Taten im Prozess im Wesentlichen eingeräumt. Die zweifache Mutter hatte dargelegt, dass sie, als Reinhardt L. gerade auf einer Trage vom Krankenwagen zum Klinikgebäude geschoben wurde, gemeinsam mit Kolleginnen vor dem Eingang gestanden hatte. Dabei habe sie beobachtet, wie dem Mann das Portemonnaie aus der Tasche fiel – und es an sich genommen. In der Brieftasche habe sich neben Bankkarten auch ein Zettel mit handschriftlich notierten PIN-Nummern befunden. So habe sie Geld vom Konto des Schwerstkranken abheben können. Das habe sie aus einer finanziellen Notlage heraus getan. Selber damals an Krebs erkrankt, relativ frisch vom Partner getrennt und damals alleinerziehende Mutter einer Vierjährigen, habe sie nicht gewusst, wie sie über die Runden kommen soll. Also habe sie die Gelegenheit ergriffen.

Angeklagte habe erkannt, dass sich das Diebstahlsopfer in einer hilflosen Lage befand

Das Gericht ist davon überzeugt, dass Doris R. bei ihrer Tat erkannt hat, dass sie jemanden bestiehlt, der „sich in einer hilflosen Lage befindet“, sagt die Vorsitzende Richterin. Nicht verurteilt hat die Kammer indes eine weitere Tat, wegen derer die 32-Jährige angeklagt war. Hier wurde ihr vorgeworfen, auch die Schlüssel von Reinhardt L. geklaut, sich mit diesen Zutritt zu dessen Wohnung verschafft und dort in Unterlagen die PIN entdeckt und dann für Geldabhebungen verwendet zu haben. Es liege fern, dass die Frau sich dem Risiko ausgesetzt habe, bei dem Betreten der Wohnung von Nachbarn entdeckt zu werden. Zudem sei Außenstehenden nicht bekannt gewesen, wo die PIN zu finden sei.

Bernd L., der Bruder des Verstorbenen, ist allerdings überzeugt davon, dass die PIN-Nummer in der Wohnung von Reinhardt L. ausgekundschaftet worden sein muss. Sein Bruder wäre niemals so fahrlässig gewesen, die Nummer zusammen mit der EC-Karte in der Brieftasche aufzubewahren, ist der 63-Jährige überzeugt. Vielmehr habe er stets alle Unterlagen säuberlich abgeheftet. Und ausgerechnet der Ordner mit jenen sensiblen Daten habe auf dem Esstisch gelegen, als er das erste Mal nach dem Tod seines Bruders dessen Wohnung betreten habe, erzählte Bernd L. als Zeuge vor Gericht. Also müsse sich jemand Zugang zu der Wohnung verschafft haben – sehr wahrscheinlich wohl die Angeklagte.

Woher hat die Angeklagte die PIN-Nummer, um Geld abzuheben?

Für diese Theorie fehle allerdings „die objektive Grundlage“, meint dazu das Gericht und schließt sich damit der Argumentation der Staatsanwaltschaft an, die davon ausgeht, dass ein unbefugtes Eindringen in die Wohnung des Hamburgers nicht nachzuweisen ist. Zudem hatte ein Schriftsachverständiger ausgesagt, dass die Nummern auf dem Notizzettel von Reinhardt L. sehr wohl von ihm geschrieben worden sein können.

Allerdings sind sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das Gericht davon überzeugt, dass Doris R. neben dem Diebstahl und dem Betrug zuLasten des todkranken Patienten auch ihre Krankenkasse betrogen hat. So habe sie Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die ihr Arzt ausgestellt hatte, gefälscht und die Daten verändert. Dadurch hatte sie erreicht, dass ihr mehr als 3500 Euro mehr Krankengeld gezahlt worden war, als ihr zugestanden hätte. Diesen Schaden hat die 32-Jährige mittlerweile beglichen.

Wohnung der Verdächtigen durchsucht, ihr Arbeitgeber stellte sie frei

Über Computerdaten war die Angeklagte seinerzeit in Verdacht geraten, etwas mit dem Diebstahl der Brieftasche von Reinhardt L. sowie mit den Bankabhebungen zu tun zu haben. Daraufhin war ihre Wohnung durchsucht worden – und ihr Arbeitgeber stellte sie zunächst frei, dann wurde das Arbeitsverhältnis gekündigt. Mittlerweile ist Doris R. Mutter eines zweiten Kindes und lebt von Bürgergeld. Sie wolle jedoch später gern wieder als Krankenschwester arbeiten, sagt sie.

Sollte die Entscheidung des Landgerichts rechtskräftig werden, würde das bedeuten, dass die Hamburgerin nicht ins Gefängnis muss. Die Staatsanwaltschaft hatte zwei Jahre mit Bewährung gefordert, die Verteidigung eine „bewährungsfähige Strafe“ beantragt. Die ursprünglich vom Amtsgericht verhängten zwei Jahre und vier Monate Haft hatte das Gericht damals damit begründet, dass die Tat „besonders verwerflich“ sei. „Da ist ein Mann, der um sein Leben ringt. Das ist etwas sehr Schlimmes. Dann wird sich an dem Mann auch noch bereichert.“

Ursprünglich hatte die Angeklagte die Tat einer Kollegin in die Schuhe geschoben

Seinerzeit hatte die Angeklagte noch behauptet, eine Kollegin habe den Diebstahl begangen und die Brieftasche des Opfers an sie weitergegeben. Den Namen der Kollegin wolle sie aus Kollegialität nicht nennen. Dass sie jetzt die Tat gestanden hat, wurde Doris R. zugutegehalten – ebenso unter anderem, dass sie die Angehörigen von Reinhardt L. um Entschuldigung gebeten hat.

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Doch damit ist Bruder Bernd L. nicht zufrieden. Der 63-Jährige ist ebenso wie seine Schwester Christine J. empört über die Tat. Auch das neue Urteil, die Bewährungsstrafe, stellt ihn nicht zufrieden. Das Urteil sei „ein Skandal“, meint der Hamburger. Er erinnert sich daran, wie sein Bruder ihm im Krankenhaus dafür gedankt habe, er habe ihm das Leben gerettet.

Denn zunächst habe Reinhardt L. gar nicht erkannt, wie krank er ist, sondern nur am Telefon erzählt, dass er Schmerzen in der Brust habe und sich unwohl fühle. Er solle sofort einen Krankenwagen rufen, habe er seinem Bruder damals geraten, sagt Bernd L. heute. Und dies sei dann auch geschehen, sodass der Schwerkranke dann in die Klinik kam. Doch sein Herz war da schon zu schwer geschädigt. Den Kampf um sein Leben verlor er.