Hamburg. Hamburgs Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi über die Kandidatenkür der Union, schwierige Bündnisse und seine Hoffnung für die SPD.
Jede Woche stellt sich der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi den Fragen des stellvertretenden Abendblatt-Chefredakteurs Matthias Iken.
Matthias Iken: Friedrich Merz wird Kanzlerkandidat der Union. Erwarten Sie ihn auch als neuen Kanzler?
Klaus von Dohnanyi: Friedrich Merz hat jetzt die Kanzlerfrage zunächst in den eigenen Reihen geklärt: Er wird die CDU/CSU in den Wahlkampf führen, und er hat auch, folgt man den Umfragen, gegenwärtig die besten Chancen, nach den Bundestagswahlen 2025 Bundeskanzler zu werden. Bis dahin wird allerdings noch ein Jahr vergehen und was kann nicht alles in einem Jahr geschehen! Dennoch: Die Umfragen sind seit Monaten sehr stabil; die CDU/CSU liegt mit großem Abstand vor den Ampelparteien, und ich kann gegenwärtig nichts voraussehen, was diesen Vorsprung der Unionsparteien deutlich beeinträchtigen könnte. Also: Alles spricht für Merz!
Aber: Auch Merz wird Koalitionspartner brauchen. Und mit der FDP wird es nicht reichen, wenn sie die nächsten Bundestagswahlen überhaupt überlebt! Wer dann? Die abgewirtschafteten Grünen? Eine widerwillige SPD? Wie lange wird die viel beschworene Brandmauer zur AfD halten? Und was wird mit Wagenknechts Partei, wenn auf Länderebene erst mal ein Schritt in diese Richtung getan sein wird, und zwar von der dortigen CDU? Also: Die Koalitionsfrage wird für Merz die größte Hürde auf dem Weg zum Bundeskanzler sein.
Klaus von Dohnanyi erwartet keinen Kanzlerkandidaten Pistorius
Iken: In der SPD herrscht Unruhe – halten Sie für möglich, dass die Partei Olaf Scholz noch gegen Boris Pistorius tauscht?
Dohnanyi: Ich halte das nicht für sehr wahrscheinlich. Pistorius ist an seinem Platz als Verteidigungsminister populär, aber ich glaube nicht, dass sich die Basis der SPD an ihrer politischen Spitze einen Mann wünscht, der Deutschland in erster Linie „kriegstüchtig“ sehen will. Pistorius fehlt aus meiner Sicht, und damit stehe ich in der SPD ganz offensichtlich nicht allein, die Fähigkeit zum „Sicherheitsminister“, wie sie frühere Verteidigungsminister der SPD (in erster Linie zum Beispiel Helmut Schmidt, aber auch Georg Leber und Hans Apel) auszeichnete: Äußere Sicherheit ist nämlich nicht nur Waffentüchtigkeit, sondern auch ein Produkt guter Diplomatie. Wer das Sicherheitsinteresse der anderen Seite unterschätzt, schafft keine wirkliche Sicherheit für die eigene Seite!.
„Heute haben wir Stimmungswahlen“
Iken: Sind die Spitzenkandidaten heute wichtiger geworden als sie es früher waren?
Dohnanyi: Dafür sehe ich gegenwärtig keine Hinweise. Merz zum Beispiel gab kürzlich in einem Fernsehinterview zu, dass er offensichtlich bei den Menschen in Deutschland nicht besonders beliebt sei. Das aber steht der führenden Rolle der CDU in den Umfragen nicht im Wege. Und nehmen Sie die AfD: Die Leute kennen oft nicht einmal die Führungspersonen und wählen dennoch diese Partei. Wenn Sie bedenken, welche Bedeutung Willy Brandt für die Wahlergebnisse der SPD, Konrad Adenauer oder auch Franz-Josef Strauß für die der CDU/CSU einst hatten, dann glaube ich nicht, dass Wahlen heute stärker „Personenwahlen“ sind als früher.
Ich denke vielmehr, dass wir heute eindeutiger „Stimmungswahlen“ haben. Woran könnte das liegen? Manchmal wird behauptet, Regierungen erklärten den Bürgerinnen und Bürgern nicht eingehend genug, warum sie bestimmte Entscheidungen nur so und nicht anders treffen wollen. Ist das richtig? Oder sind die Dinge einfach zu kompliziert für die Wähler geworden, und diese hören nur noch das Stimmungsecho ihrer eigenen Überzeugungen? Die Folgen des Internets und der Smartphones sind jedenfalls für die Politik noch immer unberechenbar.
Iken: Welche Konstellation ist nach der Bundestagswahl wahrscheinlich – und welche wünschenswert?
- Klaus von Dohnanyi: „Deutschland muss seine Interessen mutiger vertreten“
- Klaus von Dohnanyi: „An Sahra Wagenknecht kommt man im Osten nicht vorbei“
- Klaus von Dohnanyi: „Europa wird nicht regiert, sondern reguliert“
Dohnanyi: Natürlich wünsche ich mir eine SPD-geführte Bundesregierung, in der die SPD sich ihrer entspannungspolitischen Erfolge wieder erinnert und beginnt, Europa in eine weniger gefährliche Lage zu führen. Ist das eine Illusion? Ja, denn solange wir die russische Reaktion auf das Vorrücken der Nato nicht auch als Reaktion einer Großmacht auf das Vorrücken der anderen an die eigenen Grenzen verstehen, wird es keinen Frieden geben. Das kann diese Reaktion und den Krieg zwar nicht rechtfertigen, aber erklären! Wir brauchen also eine Regierung, die bereit ist, mit Russland über gegenseitige Sicherheitsinteressen offen zu reden. Ob es zu spät ist? Wahrscheinlich ja, aber aufgeben ist nicht Teil meines Charakters.