Hamburg. Der Hamburger Marc Breuer stürzte vor St. Peter-Ording ab. Doch sofort waren Ersthelfer da. Die unglaubliche Geschichte einer Rettung.
- Der Hamburger Kitesurfer stürzt in St. Peter-Ording aus 10 Meter Höhe ab..
- Dreimal wird er gerettet: am Strand, per Hubschrauber und im UKE.
- Wie glückliche Zufälle dazu beitrugen, dass Marc Breuer noch lebt.
Marc Breuer liegt am Strand und ist praktisch tot. Er ist über den Wellen vor St. Peter-Ording mit seinem Kite aus 10,37 Meter Höhe abgestürzt. Sein Sprung zuvor war 68 Meter weit. Das wird seine Apple Watch mit der App Surfr.pro genau dokumentieren.
Marc Breuer kann Kitesurfen. Er hat sogar eine Lehrerlizenz. Wenn das Wetter im Sommer gut ist, fährt er aus Hamburg raus nach SPO – zu Wind und Wellen. Doch nun scheint alles aus. Er spuckt Sand und Salzwasser, sein Gesicht ist bereits bedenklich blau.
Es ist der 4. Juli 2024, der letzte Eintrag der Apple Watch zeigt 19.44 Uhr. Da hat er sich noch selbstständig geregt. Mit rund 35 Knoten fegt der Wind über den breiten Strand. Marc Breuer wird in den folgenden Minuten, Stunden und Tagen nach diesem Höllenritt über die Nordsee dreimal vor dem sicher geglaubten Tod bewahrt. Die unglaubliche Geschichte der Rettung eines quasi schon Ertrunkenen wird ein Happy End haben. Der Hamburger Logistikfachmann lebt, er feiert Ende September seinen 30. Geburtstag – und will es krachen lassen.
Kitesurfer stürzt vor St. Peter-Ording ab und wäre fast ertrunken
Das Hamburger Abendblatt hat Unfall, Rettung und Genesung rekonstruiert. Es ist schier verrückt, was hier geschehen ist und wer wie beteiligt war. Marc Breuer macht sich auf den Hergang seinen eigenen Reim. Er hat sich mittlerweile zusammengepuzzelt, dass es drei Gründe geben kann, warum er überhaupt in die Fluten stürzte.
Im Auto nach St. Peter hat er vom Beifahrersitz noch letzte E-Mails geschrieben. Auf dem Weg zum Wasser, erinnert er sich, „flog der Sand einem schon entgegen“. Er ist angespannt, aber freudig, geht umsichtig aufs Wasser, aber nicht ängstlich.
Über dem Neoprenanzug sind Prallschutzweste und Helm seine festen Begleiter. Seine ersten Sprünge sind 10 Meter, 10,50 Meter hoch. „Das kann ich besser“, denkt er sich. Zum letzten Sprung fährt er deutlich schneller an. Im Absprung verliert er das Board. Möglicherweise hat er da eine hektische Bewegung gemacht und kurz darauf den Quickrelease ausgelöst. Oder es war eine Fehlauslösung dieser Verbindung von Trapezhaken und Schirm. Oder, dritte Möglichkeit, der Quickrelease hat sich unbeabsichtigt herausgedreht. Das kann, sagt Marc Breuer, bei böigem Wind passieren oder wenn die Leinen kurzzeitig die Spannung verlieren.
Surf-Drama auf der Nordsee: Hubschrauber fliegt Hamburger Kiter ins UKE
68 Meter weiter stürzt er auf die Wasseroberfläche, mit den Füßen voran. Er verliert das Bewusstsein und treibt mit dem Gesicht nach unten auf den Wellen. Sein Kite-Freund hat das mitangesehen – und zwei junge Kiterinnen, die, man muss es so sagen, vom Schicksal noch eine besondere Rolle in diesem Surf-Drama bekommen werden.
Der Mit-Kiter eilt zu Marc Breuer, dreht ihn um, trommelt auf seine Brust. Eine Winzigkeit später ist Melanie Gunawardene da. Dr. Melanie Gunawardene, Kardiologin, intensivmedizinisch ausgebildet. Sie hat ihrer Begleiterin noch zugerufen: „Hol den Rettungsdienst, sag sofort, wir brauchen einen Hubschrauber!“ Mit dem Rettungswagen weg aus SPO, in eine weit entfernte Klinik – vergiss es.
Eine Sekunde, das sagt sie offen, musste sie sich sammeln, um aus ihrer Kite-Leidenschaft in das Mindset ihres Jobs zu wechseln: Wie gehe ich vor, was sind die nächsten Schritte? „Mir war klar, dass wir nicht viel Zeit haben.“ Mit dem anderen Kiter fischt sie Marc Breuer aus dem Wasser. Er ist jetzt so halb bei Bewusstsein. Sie schreien ihn an. Er soll versuchen, beim gemeinsamen Schleppgang an den Strand ein paar Meter selbst zu schaffen.
Notarzt macht vor Ort Ultraschall und muss Patienten maximalinvasiv beatmen
Dann liegt er da. Wie ein still Ertrinkender. Melanie Gunawardene untersucht ihn auf Verletzungen, fragt nach Allergien, um Marc Breuer möglichst informationsreich an ihre Kollegen zu übergeben. Der Abgestürzte erinnert sich dunkel an das „große Kino“ um ihn herum.
Denn an dem Tag machte am Strand auch die Feuerwehr mit der DLRG eine Übung. Mehr Retter geht nicht. Aber: Melanie Gunawardene tippt schon mal auf Lungenversagen. Optimistisch klingt anders.
Aus dem Hubschrauber der DRF-Luftrettung steigen Notarzt Sebastian Kloebe und sein Hems TC Patrick Thies, das ist ein „Helicopter Emergency Medical Services Technical Crew Member“. Der Facharzt für Anästhesiologie arbeitet an der Asklepios Klinik Barmbek und an der Hamburger Feuerwehrakademie.
Wie steht’s mit Sauerstoff beim Patienten? Ist die Lunge kollabiert? Ist sein Becken verletzt? Gibt es innere Blutungen? Bei einem Sturz aus dieser Höhe wirkt das Wasser hart wie Beton. Der Hems TC bereitet den Ultraschall vor, die Besatzung des Rettungswagens, in dem der Kitesurfer nun liegt, legt Zugänge. Marc Breuer wird eine Narkose brauchen.
Im Schockraum des UKE kämpft ein ganzes Team um das Leben von Marc Breuer
Heli-Doktor Kloebe schallt Lunge, Herz, Niere, Leber, Milz, Blase. Er macht Druck – buchstäblich. Er optimiert das Sauerstoffangebot mittels druckunterstützter Spontanatmung. So heißt das im Fachjargon. Unter seinen Händen liegt ein akutes Lungenversagen. Der Patient fleht förmlich um Sauerstoff. Der Notarzt dreht die Regler hoch.
Bevor Marc Breuer an eine künstliche Lunge (Ecmo) kommen kann, muss er stabil transportiert werden. Und maximalinvasiv beatmet. Die Ecmo ist seine einzige Chance. Das Team arbeitet weiter an dem jungen Mann. Die Piloten bereiten vor, dass er vom Rettungswagen in den Hubschrauber umgelagert wird. Als der Heli abhebt, soll er eigentlich nach Kiel fliegen. Dort sind jedoch – so ist das auch bei großen Intensivstationen – aktuell keine Ecmo-Kapazitäten.
Gut 30 Minuten später landet der rot-weiße DRF-Hubschrauber auf dem Dach des UKE in Hamburg. Die Leitstelle hat ihn dorthin dirigiert. Mit dem Fahrstuhl geht es herunter in den Schockraum. UKE-Intensivchef Prof. Stefan Kluge wird später sagen, dass die Kollegin vor Ort und der fliegende Arzt einen fantastischen Job gemacht haben. Ihnen verdankt Marc Breuer sein Leben.
Künstliche Lunge als Schlauch, der über das Bein zum Herzen geführt wird
Und dem UKE-Team, das sich am 4. Juli abends um den Mann versammelt, der da aus St. Peter eingeschwebt kam. Oberarzt Dr. Christoph Burdelski zählt später auf, wer den zutiefst lebensbedrohlichen Zustand des Patienten begutachtete: die Pflegekräfte, der Internist, Anästhesist, Kardiotechniker, mindestens ein Intensivmediziner, so genau weiß er es nicht mehr, ein Unfallchirurg, weil ein „Polytrauma“ angekündigt wurde, und das Ecmo-Team. Lebensbedrohliche Hypoxie – das klingt so technisch. Marc Breuer kämpft um sein Leben. Ein ganzes Team des UKE kämpft mit.
Dieser Sauerstoffmangel kann bleibende Schäden hervorrufen. Und den Tod, der schon an der Türschwelle zum Schockraum steht. Im Wasser auf dem Weg zum Strand hat er gezittert. „Gut so“, dachte Melanie Gunawardene, die Ersthelferin. Wenn die Körpertemperatur absinkt, braucht das Hirn nicht ganz so viel Sauerstoff. Die Kardiologin aus der Asklepios Klinik St. Georg, die so beherzt eingriff, ahnt nicht, dass ein Kollege aus Barmbek im Hubschrauber fliegt und wer Marc Breuer im UKE übernimmt. Denn: Sie hat in ihrer Zeit in Eppendorf mit Christoph Burdelski im Team zusammengearbeitet. Im UKE baut Dr. Yarin Yildirim in gut 20 Minuten Marc Breuer jetzt eine künstliche Lunge ein. Ein Mensch hat keine Steckdose. Yarin Yildirim ist ein Experte für diese Feinarbeit mit Schläuchen, die in Bein und Hals führen.
Badetote 2024: Die Bilanz der DLRG ist erschütternd
Die Uhr tickt, die Lunge ist schlapp, das Herz schlägt – noch. Wenn Christoph Burdelski den Patienten schnell mit dem Sauerstoff aus der VV-Ecmo versorgen kann, hat der vielleicht eine Chance. Ecmo, das ist die extrakorporale Membranoxygenierung. Die Lunge wird outgesourct.
„Man kann schon mal ein Bein ein paar Stunden abklemmen“, sagt der UKE-Spezialist. „Aber das Gehirn braucht den Sauerstoff.“ Das meint: Bei jeder Minute ohne stirbt was ab.
Die veno-venöse Ecmo holt vereinfacht gesagt Blut aus dem venösen System des Menschen, bindet Sauerstoff an den roten Blutfarbstoff Hämoglobin und gibt das angereicherte Blut in den Körper zurück. Vier bis fünf Liter Blut werden hier pro Minute durchgeschleust. Die Ärzte werfen den Lungenturbo an. Christoph Burdelski sagt: „Wir waren bis in die Haarspitzen motiviert, ihn zu retten.“ So ein junger Mann, sportlich, der darf doch nicht mit angelegter Schwimmweste ertrinken.
Sie haben andere Fälle von Badeopfern im UKE: aus der Elbe, dem Stadtparksee. Da spielen Menschen manchmal mit ihrem Leben. In einer ersten, vorläufigen Bilanz zählte die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG), dass bis zum 10. September 353 Menschen ertrunken seien, 75 mehr als im Vergleichszeitraum 2023. Mehr in Flüssen, mehr im Meer. Drei Viertel sind Männer.
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In Hamburg hat es erschütternde Fälle von Kindern gegeben, die in den Fluten den Tod fanden. Sosehr die UKE-Ärzte selbst das Wasser lieben, so klar sprechen sie sich für Badeverbote an notorischen Gefahrenorten wie dem Falkensteiner Ufer aus.
Marc Breuer passt in so gar kein Schema. Seine „Salzwasseratmung“ war maximal schädlich für die Lunge. Dass er jung und sportlich ist, hilft ihm. Seine Betreuer legen ihm ein Patiententagebuch an. Die kleine Schwester kommt und sitzt an seinem Bett. Lange. Ärzte und Pflegekräfte sind gerührt.
UKE-Patient wie in einem Delirium
Doch der Patient muss ein drittes Mal vor dem Tod bewahrt werden. Er entwickelt ein sogenanntes abdominelles Kompartmentsyndrom. Der Druck im Bauch steigt, die Organe sind akut bedroht. Die Ecmo droht ihre Power zu verlieren. Mit dem Bauch ist Intensivmediziner Christoph Burdelski auf Du und Du. Er ist Viszeralchirurg. Das UKE-Team muss erneut zum Skalpell greifen.
Nur langsam können die Ärzte sich und ihr Instrumentarium zurückziehen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die Ecmo wird wieder ausgebaut. „Es war lange kritisch“, geben sie im UKE zu. Zehn Tage wird Marc Breuer beatmet. Dann wacht er auf. Was man so „wach“ nennt auf Europas größter Intensivstation. Am 22. Juli kann er in ein normales Krankenzimmer, am 29. erhält er seine Entlassungspapiere, 25 Tage nach dem Absturz.
Er erinnert sich an wilde Träume im UKE: Er liegt am Strand, Blaulicht um ihn herum. „Ich bin am Wasser gestorben.“ Es ist eine Art Delirium. „Der Patient war tief sediert“, heißt es auf der Intensivstation. Er wacht mal auf, fühlt seine Hände ans Bett gebunden, „Schläuche in mir drin, ich trug einen Kittel“.
Kitesurf-Unfall: Eine besondere Rettungskette hielt Marc Breuer am Leben
Es waren immer Pflegekräfte bei ihm, sagt er. Sie haben auch mit ihm am Gehwagen geübt, dass er mal 30 Meter schafft. Die Karottensuppe hat er als „schmackhaft“ in Erinnerung. Er ist über sich selbst verblüfft, dass er mittlerweile wieder lange stehen kann. Dass er ohne Einschränkungen spazieren geht.
Letztens war er in seiner Firma Ceva Logistics dabei, wie sie einen Satelliten für die US-Weltraumbehörde Nasa verladen haben. „Wüsste ich nicht, dass ich einen Eingriff am Bauch hatte und diesen kurieren muss, würde ich behaupten, topfit zu sein.“
Natürlich will er wieder Sport machen und kiten gehen. Seinen Lebensrettern am Strand, aus der Luft und am UKE ist er unendlich dankbar. Dass diese Verkettung von Rettern eine sehr besondere war, dringt ihm langsam ins Bewusstsein.
Am 4. Juli, dem Tag des Absturzes von Marc Breuer, wurde ein Kitesurfer auf der Ostsee an der Halbinsel Zingst vom Wind abgetrieben. Seine Tochter alarmierte per Handy die Leitstelle. Alle Rettungsversuche waren vergebens. Der Mann konnte nur tot geborgen werden.