Hamburg. Wasserschäden, verrottete Technik: Die Praxisklinik in Mümmelmannsberg ist marode. Ärzte wollen bleiben – doch die Lage ist vertrackt.
- 18.000 Menschen drohen in Hamburg Einschnitte der medizinischen Versorgung
- Die Praxisklinik Mümmelmannsberg ist marode – Ärzte verzweifeln
- Die Eigentümer sind in Hamburg keine Unbekannten
Die Fassade ist schmutzig und löchrig. Wenn es stärker regnet, sammelt sich das Wasser im Keller knöchelhoch. Mindestens. Neulich kam wieder eine Platte von der Decke. In einem Behandlungszimmer haben sie ein Planschbecken aufgestellt, um wenigstens einen Teil des Bodens trocken zu halten. Das Flachdach ist offenbar undicht. Wild gewuchertes Grün säumt einen Eingang zur Praxisklinik Mümmelmannsberg. Fast 30 Hamburger Ärztinnen und Ärzte arbeiten hier. Hausärzte sind darunter, Frauenärztinnen, Orthopäden, Chirurgen, ein HNO-Arzt. Man schaut in angespannte Gesichter, wenn man ihnen zwei Fragen stellt: wie lange noch? Und: warum?
Unter diesen Bedingungen zu arbeiten ist jeden Tag ein Gang ins Elend. Seit Jahrzehnten ist augenscheinlich kaum etwas renoviert worden an dieser medizinischen Einrichtung mit einem Minikrankenhaus und kleinen Operationssälen und Aufwachräumen. So stellen es Ärztinnen und Ärzte dar, die hier seit beinahe 20 Jahren arbeiten. Die Isolierung des Hauses ist so schlecht, dass eine Praxis in diesem Jahr 12.000 Euro an Nebenkosten nachzahlen musste. „Das Geld kann ich nicht aus dem laufenden Betrieb erwirtschaften“, sagt der Arzt, den es betraf. Und betroffen sind hier alle.
Hamburger Praxisklinik marode: Was wird aus Tausenden Patienten?
Dr. Katja Lippmann ist Frauenärztin. Wenn man ehrlich ist, sagt sie, war es immer schon so schlimm. 16 Jahre ist sie hier. Mit einer Praxispartnerin und Assistentinnen versorgt sie 2300 Patientinnen pro Quartal. Lippmann macht Urlaubsvertretungen für andere Praxen. In Billstedt und Bergedorf hat sie lange nach anderen Räumen gesucht – am Ende verzweifelt. „Ich weiß nicht mehr, was wir tun können.“
Lippmann will am Standort Mümmelmannsberg bleiben. Es gibt nirgendwo eine Immobilie, nicht einmal im weiteren Umfeld, in die sie ziehen könnte. Die bezahlbar wäre. Wo ihre Patientinnen die gewohnte Versorgung, Beratung und Behandlung bekämen. Wo sie operieren könnte, das medizinische Angebot wenigstens so aufrechterhalten, dass es den Frauen hier gerecht wird. Lippmann sagt: „Die Räume sind desolat. Es gibt zu viel Hitze im Sommer, zu viel Kälte im Winter. Wir hatten einen Wassereinbruch durch die Decke. Außerdem ist die Technik total veraltet.“
Arzt in Mümmelmannsberg arbeitet unter katastrophalen Bedingungen
In Mümmelmannsberg sind wenige Privatpatienten unter den 18.000 Einwohnern. Viele haben einen Migrationshintergrund. Mit Händen und Füßen wird hier in der Praxis von Dr. Gerd Fass geredet. Das kostet Zeit. Die medizinischen Fachangestellten (MFA) sprechen oft neben Deutsch und Englisch auch Türkisch oder Farsi. Das hilft.
Kulturelle Vielfalt wird hier großgeschrieben, seit das Quartier mitsamt Praxisklinik Mitte der 70er-Jahre aus dem Boden gestampft wurde. Die Praxen und eine Apotheke wurden gleich mitgedacht.
Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) hat das Megaprojekt damals finanziell unterstützt. Der Orthopäde und Chirurg Fass mag das alles. Er steht hinter der Idee, dass auch ärmere Stadtteile in der medizinischen Versorgung gegenüber wohlhabenden nicht benachteiligt sein dürfen. Er will nicht weg. Aber wie lange kann sich seine Praxis hier noch halten?
Drei Szenarien für die Ärzte in Mümmelmannsberg
Die katastrophalen baulichen Zustände des Hauses haben ihn zermürbt. Durch gesundheitspolitische Schattenspiele wie die Abschaffung der Neupatientenregel ist zuletzt sein Basishonorar wieder deutlich gesunken. Die Ärzte hier haben ihren Status als Belegärzte verloren, in der Stadtteilklinik ein paar Stockwerke höher können sie keine Eingriffe mehr machen. Miete und Nebenkosten würden die Erlöse der OPs komplett auffressen.
Bei Fass gibt es nicht einmal eine funktionierende Klimaanlage. Die MFA laufen ihm davon. Jeden Tag volle Wartezimmer, jeden Tag Frustration, bisweilen auch offene Aggression, jeden Tag der Gang in eine Bruchbude – die Praxis-Assistentinnen haben in Hamburg überall berufliche Alternativen. Fass ist jetzt 61.
Im Journal der Kassenärztlichen Vereinigung hat er für seine Kolleginnen und Kollegen in den besser situierten Stadtteilen mal die Szenarien aufgezeigt. A: Die Praxisklinik schließt, und alle Einzelkämpfer suchen sich woanders Räume. Völlig unmöglich, im Umkreis von wenigen Kilometern was zu finden, sagt Fass. „Die älteren Kolleginnen und Kollegen würden vermutlich in Rente gehen, die jüngeren in andere Gegenden umziehen.“ Gute Nacht, Mümmelmannsberg. Szenario B: Das Gebäude wird saniert. Doch bei laufendem Betrieb scheint das unmöglich. Wer ein Ausweichquartier finden würde, hätte wohl kein Geld und keine Nerven für Hin- und Rückumzug. C: Alle Einrichtungen der Praxisklinik ziehen zusammen in einen Neubau in der Nachbarschaft. Das fände Fass großartig. Allerdings ist das illusorisch.
Alanta-Gruppe ist Eigentümerin der Stadtteilklinik und des Gebäudes
Direkt neben der Praxisklinik wird eine alte, ebenso marode Seniorenwohnanlage abgerissen. Zuletzt kamen hier Flüchtlinge unter. Auf sieben Stockwerken soll hier Wohnraum entstehen. Hamburg braucht solche Projekte. Doch die Saga hat bereits signalisiert, dass für Praxen hier kein Platz sei. Der Neubau stünde ohnehin erst in frühestens drei, vier Jahren – bis dahin wären Fass und Co. wohl nicht mehr dort. Einige Praxen zahlen noch die Corona-Hilfen zurück. Ohne die staatlichen Gelder hätten sie nicht überlebt.
Mit dem Vermieter und Eigentümer des Hauses ist das so eine Sache. Es ist die Alanta-Gruppe. Sie betreibt die Stadtteilklinik Hamburg, wie sie jetzt heißt. Alanta hatte das Gebäude nach eigenen Angaben erst im September 2022 vom alten Besitzer erworben. In einer Mitteilung aus der Geschäftsführung heißt es: „Die Übernahme war nötig, da der bisherige Eigentümer eine Sanierung der Immobilie im Bestand, das heißt unter Fortführung aller Einrichtungen inklusive der Kliniken, nicht für umsetzbar hielt und vor diesem Hintergrund schon der Stadtteilklinik den Mietvertrag gekündigt hatte.“ Alanta musste also übernehmen, um den Standort überhaupt zu retten.
Bezirk Hamburg-Mitte: Gespräche mit Ärzten und Saga sollen Praxen vor Ort halten
Ärzte aus den Praxen bestätigen, dass der heruntergekommene Bau vor allem dem Vorbesitzer anzulasten sei. Alanta sagt außerdem, dass die „ursprünglichen Gebäudepläne nur rudimentär“ existierten. Eine von Alanta beauftragte Architektin habe Ideen zu einem Umbau oder einer Sanierung während des Betriebs vorgelegt. „Mit allen Parteien im Haus“ liefen Gespräche. „Wir werden nach Möglichkeit bis zum Frühjahr 2025 allen an einem langfristigen Verbleib im Hause interessierten Parteien ein konkretes Angebot zur Anmietung von (Praxis-)Flächen nach Umbau inklusive Konzeption für die Übergangsphase vorlegen“, so Alanta.
Die Ärzte setzten hoffnungsvoll auf die Hilfe der örtlichen Politik. Mit Bezirksamtsleiter Ralf Neubauer gab es Gespräche. Zaubern kann auch er nicht. Es gibt im Umfeld keine Häuser, die sich schnell und nachhaltig als Praxisräume eignen. Neubauer sagte: „Wir haben einen hohen Zeitdruck. Für uns als Bezirk ist es wichtig, dass wir die Vielzahl an Ärzten erhalten.“ Man sei mit der Saga im Gespräch, um Gewerbeimmobilien vorübergehend oder dauerhaft zur Verfügung zu stellen. Neubauer sagte: „Wir haben Vermittlung angeboten, das ist zum Teil angenommen worden – zum Teil aber auch nicht.“
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Frauenärztin: „Nicht nur Ärzte in Hamburger Schickimicki-Stadtteilen“
Frauenärztin Lippmann erwartet aus der KV keine Unterstützung. Die Ärztevertretung macht Standortpolitik bestenfalls halbherzig. Die Regeln der Gesundheitspolitik hängen an ihr wie ein Klammeraffe. „Wir haben mit der Gesundheitsbehörde, der KV und dem Bezirk und mit allen gesprochen, die uns helfen könnten. Außer schön reden ist bislang nichts passiert.“ Lippmann appellierte: „Ich hoffe, dass die Stadt etwas tut, damit sich die Ärzte nicht in den Schickimicki-Stadtteilen ballen.“
Dem Orthopäden Fass und seinen Mitstreitern läuft die Zeit davon. Im Frühjahr wird das Nachbarhaus abgerissen. Das Presslufthämmern und Plattwalzen auf der Baustelle direkt neben seiner Praxis dürfte schon jedes Arztgespräch belasten. So genau hat er sich das noch gar nicht ausgemalt. Er möchte für seine Patienten da sein.
Wer in Billstedt oder Mümmelmannsberg wohnt, ist häufiger von prekären Lebensverhältnissen betroffen. Wer arm ist, ist häufiger krank. „Die von uns versorgten Patienten weisen eine überdurchschnittlich hohe Morbidität auf.“ Fass hat den Gesundheitskiosk in Billstedt mitangeschoben. In der Praxisklinik Mümmelmannsberg wurde eine Filiale eingerichtet. Er ist da, wo es wehtut. Auch da, wo die gewaltigen sozialen Unterschiede innerhalb Hamburgs schon quietschen. Dass vielleicht Menschen schlechter versorgt werden oder sogar früher sterben, weil Ärzte kein dichtes Dach über dem Kopf haben – das will er nicht hinnehmen.