Hamburg. Wenig spricht derzeit für eine Verlängerung im Kanzleramt. Was bleibt aber dann vom Hamburger in den Geschichtsbüchern?

Vielleicht wird die Frage nach dem Namen des aktuellen Kanzlers bald eine 64.000-Euro-Frage bei Günther Jauch – wie hieß noch gleich dieser Mann der „Übergangsregierung“ nach der Ära Merkel?

Mit „Übergang“ beschreibt Grünen-Chef Omid Nouripour perfekt die zerrüttete Beziehung zwischen SPD, Grünen und FDP. Viele Koalitionäre würden der Ampel lieber heute als morgen den Stecker ziehen. Der letzte Kitt ist die Angst vor der Wählerwut. In Sachsen kamen die Drei von der Zankstelle zusammen auf 13,3 Prozent, in Thüringen auf 10,5 Prozent. Wer an seinem Job hängt, macht also irgendwie weiter, bis in einem Jahr der Wähler spricht.

Viele in Hamburg fragen sich: Ist das noch der Olaf Scholz, den sie kennen?

Für Olaf Scholz sind das keine erbaulichen Zahlen. Der mutige General des Reformkanzlers Gerhard Schröder, der clevere Arbeitsminister, der erfolgreiche Bürgermeister, der geschickte Finanzminister bleibt hinter seinen Erwartungen und denen der Wähler zurück. Nicht nur in der Hansestadt fragen sich viele rat- wie fassungslos: Wie konnte das passieren?

Es gibt viele Erklärungen, die beliebteste lautet: Eine Dreierkonstellation so unterschiedlicher Parteien ist schon bei Sonnenschein schwer zu führen, im Unwetter endet sie im Chaos. Und ja, die Zeiten sind schwer mit dem Überfall auf die Ukraine, dem Abrutschen der Wirtschaft und der wachsenden Migration. Hinzu kommt, dass 16 Jahre Angela Merkel das Land gelähmt haben, wichtige Reformen verschlafen und enorme Risiken in die Zukunft verschoben wurden. Ihr Eintrag in die Geschichtsbücher wird von Tag zu Tag trüber.

Vielleicht hat Scholz das Kanzleramt schon vor dem Amtsantritt verloren

Aber was bleibt von Olaf Scholz? Eine These zur Diskussion: Olaf Scholz hat am 26. September 2021 das Kanzleramt gewonnen. Verloren hat er es schon viel früher: am 30. November 2019.

An diesem Tag entschieden sich 53 Prozent der SPD-Mitglieder für Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans als Parteivorsitzende. Die favorisierten Olaf Scholz und Klara Geywitz gingen als Verlierer vom Platz. Der Bundesfinanzminister, führungs- und entscheidungsstark, war von den eigenen Genossen geschwächt worden. Dass ausgerechnet Saskia Esken, die Scholz einst absprach, ein „standhafter Sozialdemokrat“ zu sein, ihn zum Kanzlerkandidaten ausrief, hat mit Kalkül zu tun. Scholz galt 2020 als aussichtsreichster Sozi – Kanzler wurde er vor allem, weil seine Gegner Armin Laschet und Annalena Baerbock einen Wahlkampf der Pleiten, Pech und Pannen hinlegten.

Opfer des Streits in der Ampel und zugleich Gefangener seiner Partei

Heute ist Kanzler Scholz nicht nur ein Opfer seiner schwierigen Partner FDP und Grüne, sondern auch Gefangener seiner Partei. Die SPD von 2021 hat mit der SPD seines Hamburger Triumphs 2011 soviel zu tun wie der Zweitligist HSV mit dem Europa-League-Halbfinalisten. Scholz hatte als Parteichef die Hamburger Sozialdemokraten wieder zur Volkspartei der Mitte gemacht; die heutige SPD mit Parteichefin Esken, Fraktionschef Rolf Mützenich und Generalsekretär Kevin Kühnert hingegen steht so weit linksaußen wie nie seit 1959.

Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass die beiden entscheidenden Themen der kommenden Monate – die wirtschaftliche Entwicklung und die Steuerung der Zuwanderung – Scholz auf den Leib geschneidert scheinen. Aber ihm fehlt jede Beinfreiheit, einmal in der Ampel, dann in seiner Partei.

Bei Migration und Wirtschaft könnte der Kanzler eigentlich punkten

Anders ist kaum zu erklären,warum er seine Richtlinienkompetenz nutzt, um in einer Energiekrise die Atommeiler nur dreieinhalb Monate statt dreieinhalb Jahre weiter laufen zu lassen, warum er sein Versprechen eines Industriestrompreises von vier Cent verdrängt hat und die Sorgen der Wirtschaft mit dem alten Spruch wegwischt: „Die Klage ist der Gruß des Kaufmanns!“ Inzwischen lautet der Gruß des Kaufmanns: „Adieu, Standort“.

Auch in der Migrationspolitik vertrat Scholz in Hamburg einen Kurs der Mitte und schrieb ein kluges Buch zum Thema. In der Ampel hingegen stellte er die Weichen zunächst falsch und machte die Republik noch attraktiver für unqualifizierte Einwanderer. Der Weg zurück fällt nun ungleich schwerer.

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Vieles spricht dafür, dass die Themen Wirtschaft und Migration Olaf Scholz das Kanzleramt kosten. Da bleibt ihm angesichts der desaströsen Umfragewerte nur eine Alternative: Er könnte sich von SPD, FDP und Grünen frei schwimmen und es nun einmal als Reformkanzler versuchen: den überparteilichen Asylkompromiss vorlegen, ein echtes Wachstumspaket initiieren. Er muss sich entscheiden, ob er ein Helmut Schmidt des 21. Jahrhunderts sein möchte – oder eher ein neuer Kurt Georg Kiesinger. Noch sind die Geschichtsbücher ja nicht geschrieben.