Hamburg. Abendblatt-Interview: SPD-Politikerin über Elternbeiträge und Unterrichtsausfall, schriftliche Überprüfungen in Klasse 10 und Lehrermangel.
Seit sieben Monaten ist Schulsenatorin Ksenija Bekeris (SPD) im Amt. Die 46 Jahre alte Berufsschullehrerin und Soziologin ist Chefin von mehr als 21.000 Lehrkräften an 468 staatlichen allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen mit rund 266.000 Schülerinnen und Schülern. Die SPD-Politikerin äußert sich im Abendblatt-Sommerinterview zum Wegfall der fünfstündigen Klausuren in der zehnten Klasse, dem Unterrichtsausfall, dem neuen Startchancen-Programm, zur Diskussion über eine Rückkehr zu G9 am Gymnasium und zur Hamburger Strategie gegen den drohenden Lehrermangel.
In wenigen Tagen beginnt das neue Schuljahr. Sie erleben den Unterrichtsstart zum ersten Mal als Schulsenatorin. Worauf freuen Sie sich, was bereitet Ihnen Sorge?
Ksenija Bekeris: Ich freue mich, dass wir zum Schulbeginn ein wichtiges Thema verstärkt auf die Agenda nehmen können: 90 Startchancen-Schulen mit rund 42.000 Teilnehmenden gehen an den Start. Dieses große, bundesweite Projekt zielt auf Schülerinnen und Schüler in sozioökonomisch schwieriger Lage.
Erst mal wird aber nur geplant. Lehrer- und andere pädagogische Stellen in größerem Umfang zur Unterstützung gibt es noch nicht.
Sie sprechen etwas an, was mich sehr geärgert hat in manchen Kommentaren zu dem Programm. Es geht nicht darum, einmalig viele Lehrerstellen auf die Schulen zu verteilen und ihnen ein fertiges Programm vorzusetzen. Eine große Stärke von Startchancen liegt darin, dass es langfristig angelegt ist und die Schulen selbst entwickeln sollen, was für sie der richtige Weg ist. Und für diese Planung, die am Beginn steht, gibt es auch eine zusätzliche Ressource. Die Ausschreibungen laufen noch.
Und was bereitet Ihnen Sorge?
Das letzte halbe Jahr vor der Bürgerschaftswahl ist immer sehr von parteipolitischer Profilierung geprägt. Es ist eine sehr hektische Zeit, und in diese Zeit fällt die zweite Stufe der Volksinitiative „G9” zur längeren Schulzeit am Gymnasium. Es besteht die Gefahr, dass die Diskussion verkürzt oder auch unsachlich geführt wird. Das könnte den Fokus durchaus verschieben und würde eine politische Schieflage bedeuten. Das betrachte ich sorgenvoll.
Sie sind gegen eine Rückkehr zu G9 am Gymnasium. Heißt das, dass Sie die Sorge haben, dass die Volksinitiative Erfolg haben könnte?
Ich hoffe sehr, dass wir mit dem überzeugen können, was die Hamburger Schulen in den vergangenen zwölf Jahren während des Schulstrukturfriedens geschaffen haben. Dazu zählt das erfolgreiche Zwei-Säulen-Modell mit G8 am Gymnasium und G9 an der Stadtteilschule.
Braucht es dennoch eine Reform der Oberstufe, um Schülerinnen und Schüler insbesondere am Gymnasium zu entlasten?
Das steht unmittelbar bevor. Wir müssen die Oberstufe reformieren, und dazu zählt auch die Entlastung der Schülerinnen und Schüler. Wir möchten, dass die Klassenstufe 10, in der es am Gymnasium eine besondere Verdichtung gibt, entzerrt wird. Ein Punkt ist, dass wir den Schulen zu Beginn des Schuljahres mitteilen werden, dass wir die schriftlichen und mündlichen Überprüfungen in den drei Hauptfächern Deutsch, Mathematik und Englisch zur Mitte des Schuljahres abschaffen.
Warum sind die Überprüfungen verzichtbar?
Die schriftlichen Überprüfungen sind fünfstündige Klausuren, die vor 20 Jahren eingeführt wurden. Es geht dabei darum, herauszufinden, ob es bei einer Schülerin oder einem Schüler eher in Richtung mittlerer Schulabschluss oder in Richtung Abitur geht, er also in die Oberstufe wechseln kann. Wir haben inzwischen ein so enges Netz an Schülerleistungsstudien über die einzelnen Klassenstufen hinweg geschaffen, dass wir die individuelle Entwicklung jedes Schülers und jeder Schülerin auch ohne Überprüfungen gut beurteilen können. Übrigens entlastet deren Abschaffung auch die Lehrkräfte. Darüber hinaus wollen wir mit den Schulen gemeinsam überlegen, welche weiteren Entlastungen möglich sind. Das gilt ausdrücklich auch für die Stadtteilschulen.
Da Sie nicht für eine Rückkehr zu G9 am Gymnasium sind: Können Sie sich für beiden letzten Klassen am Gymnasium auch Entlastungen vorstellen?
Es gibt viele Schülerinnen und Schüler, die G8 gut schaffen. Die benötigen keine Entlastung. Und es gibt diejenigen, die ein Jahr länger bis zum Abitur benötigen. Und für diese Schüler gibt es in Hamburg die Stadtteilschulen mit G9. Ich finde die Wahlmöglichkeit zwischen diesen beiden Angeboten, die es in Hamburg flächendeckend gibt, vollkommen richtig.
Welches Ziel hat die Oberstufenreform denn außerdem?
Es geht darum, die Zahl der zu belegenden Kurse in allen Bundesländern auf 40 zu begrenzen, die der einzubringenden Kurse auf 36. Die Zahl der Kurse auf erhöhtem Niveau wird bis 2027 (Eintritt in die Vorstufe) bundesweit bei zwei oder drei liegen, diese Flexibilität bleibt den Ländern erhalten. Das ist ein Beschluss der Kultusministerkonferenz.
Das Schulsystem eilt von Rekord zu Rekord: 265.000 Schülerinnen und Schüler, so viele wie seit den 1970er-Jahren nicht mehr. Mehr als 17.000 Lehrerstellen an den allgemeinbildenden Schulen – das bedeutet ein Allzeithoch. Wie lange lässt sich dieses Wachstum durchhalten, ohne dass es Einbußen bei der Unterrichtsqualität gibt?
Wir sind auf einem Plateau angekommen, was das Wachstum der Schülerzahlen angeht. Das wird sich in den nächsten vier Jahren auf gleichem Niveau fortsetzen, ehe wir gegen Ende der 2020er-Jahre mit weniger Schülerinnen und Schülern zu rechnen haben, weil die Geburtenrate jetzt zurückgegangen ist. Wir müssen uns trotzdem weiter bemühen, auf sehr hohem Niveau Lehrkräfte einzustellen. Uns gelingt das bisher zum Glück gut.
Mit 1350 Referendaren in der Ausbildung kann Hamburg den Bedarf aktuell decken, auch weil sich junge Menschen aus anderen Bundesländern hier bewerben. Perspektivisch will Hamburg autonom werden, das heißt, die Universität muss genug junge Menschen mit einem Lehramts-Master „liefern”. Wann wird das der Fall sein?
Das ist schwer zu sagen. Die Universität hat die Zahl der Lehramts-Studienplätze bereits ein bisschen ausgebaut, von 935 Bachelorplätzen auf 1060 Plätze in 2024 und geplant 1157 Plätze in 2026. Uni-Präsident Hauke Heekeren legt einen Schwerpunkt darauf, dass weniger junge Leute das Studium abbrechen. Derzeit sind es nach meiner Kenntnis bundesweit 40 Prozent – das ist eine zu hohe Zahl. Das wollen wir zum Beispiel in Hamburg mit neuen Beratungsstrukturen auf 20 Prozent drücken. Denn: Von den 430 Referendarinnen und Referendaren, die wir zum 1. August eingestellt haben, hat nur die Hälfte ihr Masterexamen in Hamburg gemacht.
Die Rekordzahlen beim Lehrerstellenplan sind das eine. Wer sich an den einzelnen Schulen umsieht, erfährt eine andere Realität. Vor einem Jahr waren 78 Stellen unbesetzt, ganz überwiegend an Standorten in sozialen Brennpunkten. Wie ist die Lage jetzt?
Zurzeit arbeiten mehr Personen an den Schulen, als Stellen zur Verfügung stehen, weil die Schulen nicht besetzte Lehrerstellen in andere Professionen umwandeln. Aktuelle Zahlen zum neuen Schuljahr liegen noch nicht vor, weil das Einstellungsgeschäft der selbstverantworteten Schulen noch läuft und noch nicht ausgewertet werden kann. Es betrifft übrigens nicht nur Schulen in sozial herausfordernder Lage, sondern oft auch Schulen in Randlage. Aber es gibt diese Schwierigkeiten, Stellen zu besetzen, keine Frage. Die Schulbehörde unterstützt die Schulen mit dem zentralen Bewerberpool, über den Lehrkräfte an die Schulen verteilt werden. Die betroffenen Schulen erhalten auch verstärkt Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst, also Referendarinnen und Referendare, die in Hamburg sofort Unterricht übernehmen.
Dauerthema für viele Eltern ist der Unterrichtsausfall. Wie hat sich der im abgelaufenen Schuljahr entwickelt?
Im ersten Schulhalbjahr 2023/24 sind 1,59 Prozent der Unterrichtsstunden ersatzlos ausgefallen. Das ist seit 2021 ziemlich unverändert.
Darin sind nicht Ausfälle regulärer Unterrichtsstunden enthalten, die durch schriftliche Aufträge oder Zusammenlegung von Klassen ausgeglichen werden.
Das stimmt. Aber dazu muss man wissen, dass wir den Schulen 104 bis 110 Prozent mehr Kapazitäten geben, als sie eigentlich zur Gewährleistung des Unterrichts benötigen. Das beinhaltet schon eine Vertretungsreserve. Zudem hat jede Lehrkraft eine Stunde pro Woche zur Vertretung. Rein rechnerisch könnten zehn Prozent Stundenausfall ausgeglichen werden. Wir sind im Moment bei einem Krankenstand von 8,4 Prozent. Auf dem Papier müsste jede Stunde vertreten werden können. Jeder weiß aus Erfahrung, dass das in der Praxis nicht so ist.
Was wollen Sie tun?
Wir werden die Vertretungsrichtlinie so ändern, dass sie ehrlich ist. Sie soll aufzeigen, wie viele Stunde ersatzlos ausfallen und wie viele durch Arbeitsauftrag vertreten werden. Ich möchte mehr Transparenz. Diese Richtlinie ist in der Behörde zusammen mit den Schulen entworfen worden. Sie wird jetzt zur Diskussion noch mal in die Schulkonferenzen gegeben, damit sie im Schuljahr 2025/26 in Kraft treten kann.
Wie soll die Richtlinie verändert werden?
Da sie noch nicht endgültig beschlossen ist, möchte ich dem nicht vorgreifen.
Das Essen in den Schulkantinen wird zum neuen Schuljahr teurer. Eltern müssen als Vollzahler jetzt 4,70 statt 4,35 Euro pro Essen zahlen. Und die Stadt zahlt pro Essen 80 Cent drauf, damit die Caterer noch wirtschaftlich arbeiten können. Wie lange kann die Stadt, wie lange wollen Sie das durchhalten?
Das Schulessen wird aufgrund der allgemeinen Preisentwicklung von Jahr zu Jahr teurer werden. Wir werden eine moderate Steigerung an die Eltern weitergeben.
Bleibt es denn bei den 80 Cent, die die Stadt zuschießt?
Ich bin sehr dafür, dass wir bei der sozialen Staffelung der Elternbeiträge bleiben. Es gibt viele Kinder, die das Essen kostenlos erhalten. Aber die Familien, die den vollen Preis zahlen können, werden wir perspektivisch immer stärker daran beteiligen, den vollen Essenspreis auch tatsächlich zu zahlen.
Seit Ende Mai ist die Vollverschleierung im Unterricht verboten. Gibt es schon erste Erfahrungen? Wie viele Verstöße registrieren Sie noch?
Wir bieten sehr intensive Beratungsprozesse für die Schülerinnen an, die darauf angelegt sind, den Schleiern abzulegen. Bis auf eine junge Frau an einer Berufsschule haben alle auf die Vollverschleierung verzichtet.
Von wie vielen?
Es geht um sieben Fälle, von denen wir als Schulbehörde wissen.
Was droht der jungen Frau, die bislang nicht auf den Schleier verzichten will?
In letzter Konsequenz die Abschulung.
Brauchen Schulen eine Kleiderordnung, gerade jetzt im manchmal heißen Sommer? Ist es okay, wenn Schülerinnen bauchfrei kommen oder Jungen und Mädchen in knappen Shorts?
Ich bin keine Freundin davon, alles pauschal regeln zu wollen. Jede Schule sollten sich Gedanken darüber machen, was für sie der richtige Weg ist und welche Kleiderordnung sie sich geben will.
Vermutlich sehen Sie es mit der Frage nach einem Handyverbot an der Schule genauso, oder?
Ja, ich sehe es genauso. Beim Handyverbot frage ich mich ohnehin immer, wer das eigentlich kontrollieren soll. Wir wollen im Übrigen die Schülerinnen und Schüler zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit digitalen Medien erziehen. Da ist ein Verbot nicht das richtige Mittel. Grundsätzlich gilt: Je älter die Schülerinnen und Schüler sind, desto mehr können sie Handys, Tablets usw. auch nutzen.
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Wie geht der Schulbau angesichts steigender Baukosten und fehlender Handwerker voran? Gibt es Verzögerungen? Drohen Mehrkosten?
Die erheblichen Mehrkosten werden sich extrem abzeichnen bei den Mieten, die wir nach dem Mieter-Vermieter-Modell der Finanzbehörde zahlen müssen. Wir verzeichnen eine Steigerung um rund 24 Prozent gegenüber den vergangenen Haushaltsberatungen vor zwei Jahren. Dabei steigern wir die jährliche Miete von rund 492 Millionen Euro in 2023 auf rund 641 Millionen Euro im Jahr 2026. Aus dieser Miete werden pro Jahr 400 bis 600 Millionen Euro für Neu- und Umbauten sowie Sanierungen finanziert. Bei allen Vorhaben sind wir gut im Plan. Die 40 Neubauten, die wir uns vorgenommen haben, sind gut im Soll. Es wird auch nicht weniger gebaut, weil die Mietkosten so deutlich ansteigen.
Könnte der Finanzsenator nicht einen Mietnachlass gewähren?
Das bringt nichts. Das wäre nur linke Tasche – rechte Tasche.
Was ist Ihr Wunsch für das neue Schuljahr?
Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, uns in einem gesamtgesellschaftlichen Schulterschluss wieder auf einen Schulstrukturfrieden zu einigen, um die Herausforderungen in Schule gut meistern zu können. Der jetzige läuft 2025 aus.