Hamburg. Rot-Grün hat die Gender-Volksinitiative unterschätzt – und der direkten Demokratie einen Bärendienst erwiesen.

Politik lebt vom Momentum. Das gilt im doppelten Sinne. Zum einen gibt es Strömungen, die langsam Fahrt aufnehmen und am Ende alle mitreißen. Zum anderen müssen sich Politiker oft sehr schnell für eine Richtung entscheiden. Den Kurs zu wählen ist einfach; ihn zu korrigieren, ungleich schwerer.

Beim Gendern wähnten Sozialdemokraten und Grüne das Momentum auf ihrer Seite. Das Neusprech will etwas Gutes, nämlich alle einbeziehen. Doch es politisiert den Alltag, es grenzt aus, nimmt Menschen die Sprache. Was vor wenigen Jahren als skurrile Idee von Aktivisten erdacht wurde und fröhlichen Spott und Schenkelklopfer erntete, ist heute vielen eine furchtbar ernste Sache. Schüler wurden zu Schüler*innen, Studenten zu Studierenden, eine Sprachschrulle verwandelt sich in Realität. Heißt der Bürgermeisterkandidat bald Bürger_innenmeister_innenkandidat_in?

Ist Gendern wirklich „geschlechtergerechte Sprache“?

Wer sieht, wie rasend schnell sich die „geschlechtergerechte“ (Vorsicht: Framing) Sprache durchsetzt, wird daran kaum zweifeln. An den Hochschulen ist sie längst Alltag, in den Schulen gehört sie zum guten Ton – und jeder, der in Hamburgs Behörden noch etwas werden will, schreibt lieber mit Unterstrich, Sternchen und Doppelpunkt oder hickst mit Glottisschlag. Kulturpessimisten werden ein­wenden, dass dies ausgleichende Gerechtigkeit ist: Das Komma und der Genitiv sterben aus, an seine Stelle treten ideologische Wortschöpfungen.

Nur ist es das grundlegende Missverständnis des Genderns zu glauben, das grammatische sei identisch mit dem natürlichen Geschlecht. Dann wäre fortan das Mädchen geschlechtslos, die Frauenquote über Nacht erfüllt (die Führungskraft) und der Mond würde häufiger sein Geschlecht wechseln, als es sogar die Ampel erlaubt: In Spanien und Italien heißt es la luna, im Deutschen der Mond.

Eigentlich haben wir viel größere Probleme als das Gendern

Und trotzdem: Das darf den Germanisten in mir ärgern, aber irgendwie hat das Land gerade ein paar andere Probleme, die etwas gewichtiger wirken und unseres demokratischen Eifers bedürfen. Mir fällt da der Klimawandel ein, der Rechtsruck in Europa, die Deindustrialisierung des Landes oder die Spaltung der Gesellschaft.

Stattdessen streiten wir über das blödsinnige Gendern in Hamburg. Inzwischen dürfte auch dem Senat die Debatte ziemlich auf den Senkel gehen. Denn das Momentum liegt nicht mehr bei Sozialdemokraten und Grünen, sondern bei den Gendergegnern. Das Neusprech setzt sich eben nicht von oben nach unten durch, sondern löst immer heftigere Abwehrreaktionen aus. Das Thema polarisiert stärker, die Zahl der Gegner wächst. Vor einem halben Jahr brachte eine Umfrage von t-online sogar einen neuen Rekordwert von 80 Prozent Ablehnung.

Im Senat wächst die Nervosität vor dem Volksbegehren

Offenbar wächst nun auch im Senat die Nervosität über das Volksbegehren. Zunächst nahmen SPD und Grüne die Volksinitiative nicht recht ernst – gleich bei der ersten Präsentation redete sich die Frontfrau von „Schluss mit Gendersprache in Verwaltung und Bildung“ um Kopf und Kragen. Die allerdings ist inzwischen ausgetauscht, und die Initiative wirkt deutlich professioneller.

Der jüngste Eilantrag wirft ein hässliches Schlaglicht auf die Entscheidung der Bürgerschaft, gegen die demokratische Fairness, das Volksbegehren genau in die Sommerferien zu legen. Hat da jemand Angst vor den Wählern?

Auch Koalitionsvertreter schütteln den Kopf über das Gendern

Gerade für die SPD könnte das Gendern zum Eigentor werden. Denn während aus den grünen Ressorts die Sterne wie im Sterntaler fallen, verweigern sich die meisten sozialdemokratischen Behördenleitungen, ebenso der Bürgermeister. Rote und Grüne sprechen in Hamburg unterschiedliche Sprachen.

Während viele altgediente Grüne im Hintergrund über den Sprach- und Weltverbesserungseifer nur ungnädig den Kopf schütteln, gibt es bei den Sozialdemokraten handfesteren Ärger. Es soll Ortsverbände geben, die gegenderte Wahlflugblätter kurzerhand im Altpapier entsorgt haben. Bei den sozialdemokratischen Wählern plädiert eine breite Mehrheit gegen Wähler*innen.

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Nun laufen die Sozialdemokraten Gefahr, für ein grünes Thema mitbestraft zu werden. Beide haben den Fehler gemacht, die Initiative zu unterschätzen, und nicht einmal versucht, einen Kompromiss mit den Gendergegnern auszuloten. Mit der Klage gegen den Termin des Volksbegehrens kann man nun von einem rot-grünen Doppelfehler sprechen. Mindestens.