Hamburg. Airport lahmgelegt, Kind 18 Stunden in der Gewalt ihres Vaters – doch der Täter sieht sich als Opfer. Staatsanwalt fordert lange Haft.

  • Geiselnehmer vom Flughafen Hamburg vor Gericht
  • Vierjährige traumatisiert – Vater zeigt sich ohne Reue
  • Urteil soll am 25. Juni fallen

Es ist der „Albtraum eines jeden Elternteils, die Entführung des eigenen Kindes“, wie es die Nebenklägervertreterin in ihrem Plädoyer im Prozess um die Geiselnahme am Hamburger Flughafen formulierte. Der Angeklagte E. muss sich vor dem Landgericht Hamburg wegen Geiselnahme, Entziehung Minderjähriger, vorsätzlicher Körperverletzung und Waffendelikten verantworten.

Der 35-jährige Türke wollte am 4. November vergangenen Jahres die Ausreise mit der gemeinsamen Tochter in einem Flugzeug in die Türkei erzwingen. Am Freitag plädierten der Oberstaatsanwalt, die Vertreterin der Nebenklage und die Anwältin des Angeklagten. Auch E. selbst durfte das „letzte Wort“ sprechen.

Prozess um Flughafen-Geiselnahme: Oberstaatsanwalt redet Angeklagtem ins Gewissen

Die Beweisaufnahme ist abgeschlossen, alle Zeugen wurden gehört, am achten Prozesstag wurden Videos gezeigt, die das 18-stündige Flughafen-Drama verdeutlichen. Sie zeigen, wie sich Vater und Tochter auf dem Rollfeld verhalten haben. Bei diesen Videos habe der 35-Jährige, so der Oberstaatsanwalt in seinem Plädoyer, nicht einsehen wollen, dass er dafür verantwortlich sei, so wollte er auch nicht einsehen, dass seine Tochter weine.

Dabei habe er über 18 Stunden nicht nur seine Tochter als Geisel der Freiheit beraubt, sondern auch psychische und physische Schäden für sein Kind in Kauf genommen. „Haben Sie irgendwann mal darüber nachgedacht, dass Sie vor den Augen Ihrer Tochter erschossen werden können oder dass Ihre Tochter durch eine verirrte Kugel getroffen werden kann?“, fragt der Oberstaatsanwalt in Richtung des Angeklagten E.

Hamburger Landgericht: Geiselnehmer vom Flughafen gibt Schuss ab

Zuvor habe er seine zu dem Zeitpunkt vierjährige Tochter mit einem Trick aus der Obhut seiner Ex-Frau entrissen. So gab sich der 35-Jährige als ukrainische Ebay-Interessentin aus, die auf eine Anzeige der Mutter reagierte. So verschaffte sich E. am Abend des 4. Novembers Zutritt zur Wohnung in Stade.

Flughafen Hamburg im November 2023: Durch die Geiselnahme seiner eigenen Tochter löste E. (35) einen Großeinsatz der Bundes- und Landespolizei aus. Auch der Flugverkehr wurde am 4. November gesperrt.
Flughafen Hamburg im November 2023: Durch die Geiselnahme seiner eigenen Tochter löste E. (35) einen Großeinsatz der Bundes- und Landespolizei aus. Auch der Flugverkehr wurde am 4. November gesperrt. © Michael Arning | Michael Arning

„Du musst gehen, du darfst hier nicht sein“, soll die Tochter laut Oberstaatsanwalt gesagt haben. Danach soll E. seine Ex-Frau gewaltsam in das Wohnzimmer gebracht und ihre Hilferufe mit dem Zeigen auf seine Handfeuerwaffe unterbunden haben. Auch ein Nachbar konnte E. nicht aufhalten. Als er seine Tochter ins Auto setzte, soll er mindestens einmal in die Luft geschossen und „haltet Abstand, ihr werdet mich zum Mörder machen“ gerufen haben.

Prozess Hamburg: Staatsanwaltschaft bezeichnet E.s Tat als „Gipfel der Selbstjustiz“

Anschließend fuhr E. zum Hamburger Flughafen, durchbrach mit dem Auto zwei Schranken, zündete Molotowcocktails und forderte einen Flug für sich und seine Tochter. „Die Situation, in die Sie, Herr E., Ihre Tochter gebracht haben, in der sie einem massiven Polizeiaufgebot ausgesetzt war, mit ohrenbetäubenden Triebwerkgeräuschen und lauten Schüssen“ wirke sich strafschärfend auf die Urteilsforderung aus, so der Oberstaatsanwalt.

Am Landgericht Hamburg findet der Prozess um die Geiselnahme am Flughafen statt. Am 25. Juni soll das Urteil fallen.
Am Landgericht Hamburg findet der Prozess um die Geiselnahme am Flughafen statt. Am 25. Juni soll das Urteil fallen. © dpa | Daniel Bockwoldt

Auch die ausgiebige Tatplanung, die Beschaffung eines Fluchtfahrzeugs und das Alter des Kindes wirkten sich verschärfend aus. So habe sich E. bereits Tage vor der Tat ein Auto des Carsharing-Anbieters Miles besorgt, sei damit mehrmals an der Straße der Wohnung von Ex-Frau und Tochter vorbeigefahren. „Das erklärt meine Fassungslosigkeit über eine Zeugenaussage, die Tat sei spontan gewesen“, so der Oberstaatsanwalt.

Staatsanwaltschaft fordert lange Gefängnisstrafe für Flughafen-Geiselnehmer

E. habe eine „erheblich kriminelle Energie“, beging einen „Angriff auf kritische Infrastruktur“ und zeige Gefühlskälte vor allem gegenüber seiner Ex-Frau, die noch heute „fix und alle“ sei und nicht mehr arbeiten könne. Das Wohl des Kindes und aller Beteiligten sei ihm egal gewesen. Der Oberstaatsanwalt hält fest: „Die Tat stellt einen Gipfel der Selbstjustiz dar, ausgetragen auf dem Rücken eines vierjährigen Kindes.“

Mildernd hingegen sieht die Staatsanwaltschaft das Teilgeständnis E.s, seine Entschuldigung gegenüber Polizeibeamten und dass das Kind äußerlich unbeschädigt aus der Geiselnahme ging. Die Staatsanwaltschaft hält demnach zwölf Jahre Freiheitsstrafe für angemessen.

Nebenklage fordert elf Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe

Mutter und Tochter treten in dem Prozess vor dem Landgericht als Nebenklägerinnen auf. Ihre Vertreterin ergänzt, dass beide „stark traumatisiert“ seien. E. habe ihnen die „Zukunft versaut“. Während der Prozesstage habe der Angeklagte keine Einsicht und Reue gezeigt, es sei keine Empathie erkennbar gewesen, auch nicht, als er sein eigenes Kind auf dem Bildschirm habe weinen sehen, so die Anwältin.

Sie hält elf Jahre und sechs Monate für tat- und schuldangemessen, auch weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass E. es nicht wieder versuchen würde. Von E. erhoffe sie sich, dass er seine Taten reflektiere und dass er erkenne, dass er alleine verantwortlich sei.

Flughafen Hamburg: „In dieser Geschichte gibt es nur Verlierer, mein Mandant ist einer davon“

„Dieser Fall ist speziell, auch für die Verteidigung“, erklärt E.s Verteidigerin am Freitag. Die Entziehung des Sorgerechts habe etwas in ihrem Mandanten ausgelöst, so habe er den „falschen Weg“ eingeschlagen. Eine besondere Rolle für seine Tat spielte die Verzweiflung. So glaube ihr Mandant an die Wahrheit, „Opfer einer falschen Entscheidung“ zu sein. Welches Unrecht er unter anderem seiner Tochter angetan habe, begreife er nicht, so die Verteidigerin. „In dieser Geschichte gibt es nur Verlierer, mein Mandant ist einer davon.“

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Sie möchte nichts bagatellisieren – dass das Kind auf dem Rollfeld des Flughafens war, sei falsch gewesen, es gehöre aber auch zur Wahrheit, dass sie dort „gegessen, gespielt und geschlafen“ habe. Vielleicht hatte sie weniger Angst, als „wir es als Erwachsene hier annehmen“, so die Anwältin. Auch habe E. schon Stunden vor dem tatsächlichen Geiselnahme-Ende aufgegeben und das Kind der Mutter übergeben wollen. Das Gericht sollte darum einen minderschweren Fall der Geiselnahme in Erwägung ziehen, sagte sie. Die Anwältin verzichtete darauf, eine konkrete Strafe zu beantragen.

Prozess Hamburg: Angeklagter geht nicht auf seine Tat am Flughafen ein

Der seit rund acht Monaten in Untersuchungshaft sitzende E. kam am neunten Prozesstag ebenfalls zu Wort. „Haben die mir einen anderen Weg gelassen, als mit meiner Tochter wegzugehen?“, fragt der 35-Jährige in den Gerichtssaal.

Während des Prozesses sei viel über ihn gesagt worden, nur nicht, dass er Vater sei und in seiner Wohnung ein eigenes Kinderzimmer für seine Tochter habe. In seinen „letzten Worten“ spricht E. rund 15 Minuten, allerdings ohne auf seine eigene Tat am Hamburger Flughafen einzugehen.

Das Urteil soll am 25. Juni fallen.