Hamburg. Sachverständige: Narzisstischer Angeklagter wollte Kind „um jeden Preis bei sich haben“. Was die Gutachterin zur Schuldfähigkeit sagt.

Sie hat nur ein dünnes Kleidchen an. Im kühlen Novemberwetter und sichtlich verängstigt steht das kleine Mädchen da und weint. Die fremde Umgebung, die irritierende Situation machen der Vierjährigen sichtlich zu schaffen. Sie ist auf dem Vorfeld vom Hamburger Flughafen, wo ihr Vater sie hingebracht hat. Er will seine Ausreise erzwingen, und seine Tochter soll mit. 18 Stunden dauert das Drama, bis der 35-Jährige schließlich von Spezialkräften festgenommen wird – und die Vierjährige zurück in die Obhut der Mutter kommt,

Wie sich Vater und Tochter auf dem Rollfeld verhalten haben, zeigen Videos, die jetzt im Prozess vor dem Landgerichtum die Geiselnahme am Flughafen Hamburg vom 4. und 5. November vergangenen Jahres abgespielt werden. Die Hilflosigkeit des Kindes ist offensichtlich, seine Verstörung, die Tränen. „Wenn Sie Ihre Tochter da sehen: Was denken Sie?“, möchte der Staatsanwalt vom Angeklagten wissen. Doch Mehmet R. (Name geändert) scheint die Frage nicht zu verstehen. Wieder und wieder setzt er stattdessen an, darüber zu klagen, dass ihm Unrecht angetan worden sei.

Geiselnahme Flughafen Hamburg: Angeklagter betrachtet Tochter als „sein Eigentum“

Dieses Verhalten scheint typisch für den 35-Jährigen, der sich im Prozess vor dem Landgericht unter anderem wegen Geiselnahme und Kindesentzug verantworten muss. „Er hat eine ausgeprägte Tendenz, bei anderen die Schuld zu suchen“, sagt eine psychiatrische Sachverständige über den Angeklagten. Mehmet R. sei der Meinung, „dass er gar nicht mehr anders konnte, als seine Tochter und schnappen und zum Flughafen zu fahren“. Er betrachte das Kind als „sein Eigentum. Er will seine Tochter um jeden Preis bei sich haben.“

Die Anklage wirft dem 35-Jährigen vor, mit einem Wagen eine Schranke am Flughafen durchbrochen und dann versucht zu haben, seine Ausreise und die seiner Tochter zu erzwingen. Dafür hatte er sich unter anderem die Attrappe einer Sprengstoffweste gebastelt und laut Anklage gedroht: „Ich habe Bomber.“ Schließlich warf der 35-Jährige zwei Molotowcocktails und feuerte zweimal mit der Waffe in die Luft. Beides habe er getan, „um Aufmerksamkeit“ zu erregen, hatte der Angeklagte dazu am ersten Verhandlungstag gesagt.

Geiselnahme Flughafen Hamburg: Tat war über längeren Zeitraum geplant

Die Sachverständige charakterisiert den Angeklagten jetzt als einen „hochgradig narzisstischen, unflexiblen und sehr egozentrischen“ Mann, der sich sehr schlecht in andere hineinfühlen könne. „Das Kind weint. Das sieht er gar nicht“, erklärt die Expertin mit Hinweis auf die Szene aus dem Video vom Flughafen, als bei der Vierjährigen offensichtlich Tränen fließen. Im Vordergrund habe für den Angeklagten vielmehr das Bedürfnis gestanden, sich seine Tochter zu holen, obwohl ein Gericht der Mutter das alleinige Sorgerecht zugesprochen hatte. „Er will seine Tochter bis heute zurückhaben“, erläutert die Sachverständige. Wie es dabei dem Mädchen gehe, sei „vor seiner Selbstverwirklichung in den Hintergrund getreten“.

Bei seiner Tat am 4. November, als Mehmet R. das Kind durch eine List aus der Obhut der Mutter holte, mit ihm zum Flughafen fuhr und einen 18-stündigen Nervenkrieg um seine mögliche Ausreise begann, habe es sich nicht um einen Impulsdurchbruch gehandelt, macht die Gutachterin deutlich. Die Tat sei vielmehr über einen längeren Zeitraum geplant gewesen. Er habe sie als einen „persönlichen Ausweg aus seiner Situation“ gesehen, nachdem ein Familiengericht im Sorgerechtsstreit um die Tochter zugunsten seiner Ex-Frau entschieden hatte. „Er war sehr, sehr frustriert.“ Zudem habe er die gerichtliche Entscheidung als Kränkung empfunden.

Geiselnahme am Flughafen: Gutachterin sieht Angeklagten als „voll schuldfähig“ an

Zuletzt war Mehmet R. monatlich ein vierstündiger, betreuter Umgang mit seiner Tochter eingeräumt worden. Aus seiner Sicht viel zu wenig. Offenbar glaubt der Mann, dass es allein er sei, der sich um die Vierjährige angemessen kümmern könne. Er habe die Sorge, dass die Tochter bei seiner Ex-Frau „nicht richtig aufgehoben ist“, sagt die Sachverständige. Schon einmal, im März 2022, war gegen Mehmet R. wegen des Verdachts der Entziehung Minderjähriger ermittelt worden. Damals war er unberechtigt mit seiner Tochter in die Türkei gereist. Sie konnte später von der Mutter wieder nach Deutschland geholt werden.

Mehr zum Thema

Zwar habe Mehmet R. eine auffällige Persönlichkeitsstruktur, aber er sei nicht psychisch krank und „sicher voll schuldfähig“, betont die Gutachterin. Es gebe auch keinen Hinweis auf eine aufgehobene Einsichtsfähigkeit. So habe der Angeklagte unter anderem gesagt, dass er wisse, „dass das, was ich getan habe, nicht rechtens war“. Allerdings glaube er bis heute, dass es auch in dem jetzigen Verfahren um das Sorgerecht für seine Tochter gehe.

Geiselnahme am Flughafen: Voraussichtlicher Termin für Urteil steht fest

„Ich werde immer noch herabgesetzt und herabgewürdigt“, betont der Angeklagte an diesem achten Verhandlungstag. Er werde außerdem „unter der Gürtellinie angeschossen“, übersetzt ein Dolmetscher die Worte von Mehmet R. „Wo klagt man das Recht eines Kindes ein?“ Extrem aufgewühlt wirkt der Angeklagte, bisweilen laut und in seinem Redeschwall schwer zu stoppen.

Am nächsten Verhandlungstag wird er sein „letztes Wort“ erhalten. Es ist zu erwarten, dass er dort noch einmal sehr ausführlich seine Sicht der Dinge erzählen wird. Vorher werden die Plädoyers gehalten. Für den 25. Juni ist die Urteilsverkündung vorgesehen.