Hamburg. Marione Ingram will Jugendliche wachrütteln: „Nicht einfach herumsitzen.“ Derzeit erzählt sie an vielen Schulen ihre Geschichte.

Als Marione Ingram (88) die Aula des Landesinstituts für Lehrerbildung betritt, richten sich die Blicke der Schülerinnen und Schüler still auf sie. Erst als die Aktivistin lächelt und ihre Finger als Peace-Zeichen hochhält, beginnt der Applaus. Während sie den kurzen Weg zu der kleinen Bühne geht, blickt Ingram in die erwartungsvollen Gesichter der Jugendlichen. Ihre bunte Kleidung scheint im Kontrast zu stehen zu den ernsten Themen, über die sie bei der Veranstaltung für Schulklassen sprechen möchte: ihre Überlebensgeschichte als Hamburger Jüdin während des Holocausts.

Mehrere Schulklassen ab dem neunten Jahrgang nehmen heute an der Veranstaltung teil. Die Schülerinnen und Schüler der Schule auf der Veddel und der Stadtteilschule Bergstedt hören Ingram aufmerksam zu. Keiner tippt auf seinem Handy oder unterhält sich flüsternd, während Ingram erzählt. 1935 wurde sie in Hamburg als Tochter einer jüdischen Mutter und einem nicht jüdischen Vater geboren. Gemeinsam wuchs sie mit ihren beiden Schwestern in der Hasselbrookstraße im heutigen Eilbek auf.

Hamburger Jüdin spricht an Schulen über den Holocaust

Während der Veranstaltungen für die Schulklassen blickt Ingram zurück auf ihr Leben während und nach dem Naziregime. Schon in ihrer frühen Kindheit in den 1930er-Jahren erlebte sie von einer Spielfreundin Antisemitismus und Ausgrenzung, erzählt die 88-Jährige.

„Du musst jetzt sehr tapfer sein und auch sehr viel Courage haben“, erinnert sich Ingram an die letzten Worte ihrer Großmutter an sie. Es war laut Ingram das letzte Mal, dass sie die Großmutter und weitere Verwandte sah. Viele von ihnen wurden kurz darauf deportiert und im Konzentrationslager Auschwitz umgebracht.

Marione Ingram überlebte dank eines schrecklichen Ereignisses

Ingram selbst überlebte durch ein dramatisches Ereignis: Wenige Tage vor dem Hamburger Feuersturm hatte ihre Familie im Sommer 1943 den Deportationsbefehl erhalten. Ausgerechnet die Flächenbombardierung der Alliierten, der Feuersturm, rettete sie und ihre Familie vor der Deportation. Tagelang irrte Marione an der Hand ihrer Mutter, eingehüllt in eine feuchte Decke, durch die brennenden Straßen, durfte in keinen Zivilschutzbunker. Später konnte sie sich mit ihrer Familie in einer Gartenlaube in Rahlstedt, manchmal auch in einem nahe gelegenen Erdloch, verstecken.

Der Appell ihrer Großmutter findet sich auch in Ingrams Botschaften an die versammelten Schülerinnen und Schüler wieder. „Ihr müsst jetzt anfangen zu überlegen: Was kann ich machen, um etwas zu ändern?“ ermutigt die 88-Jährige die Jugendlichen. „Eure Generation ist in Gefahr. Ihr könnt nicht herumsitzen.“ Besonders das Klima, Kriege in der Ukraine und in Gaza und Rassismus seien zentrale Probleme für die heutige, junge Generation. Trotz der Dinge, die sie als Kind während des Holocausts erlebt hat, lässt sich die 88-jährige Wahl-New-Yorkerin nicht entmutigen. Man müsse nur die Geduld haben, weiterzumachen, erklärt Ingram den Jugendlichen. „Ich hab bis jetzt nicht die Hoffnung aufgegeben, dass ihr und wir etwas ändern können.“

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In 20 Hamburger Schulen spricht die 88-jährige Ingram in einem Monat, den sie mit ihrem Mann Daniel (93) in der Hansestadt verbringt. Interesse hätten aber noch viel mehr Schulen gehabt, berichtet Christoph Berens vom Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung. „Ich hätte auch noch 20 mehr Veranstaltungen organisieren können.“

Berens stimmt Ingram zu: „Der Kampf für Frieden fängt schon in der Schule an.“ Schon hier könne man sich für Mitschülerinnen und Mitschüler einsetzen, die unter Mobbing leiden. Vor Schulklassen und mit jungen Menschen sprechen, sei Ingram schon immer ein Anliegen gewesen. „Sie ist als Person sehr wahrnehmbar und eine Identifikationsperson, die berührt“, findet Berens. Auch in Zukunft sollen die Veranstaltungen mit Ingram für Hamburger Schulklassen organisiert werden.

Die Schülerinnen und Schüler scheinen Berens‘ Einschätzung über die 88-Jährige zu teilen. Nach der Veranstaltung bildet sich um Ingram eine Traube Jugendliche. Sie wollen ihr Fragen stellen oder sich mit ihr über das aktuelle Weltgeschehen austauschen. Manche knipsen auch ein Selfie. Viele bedanken sich bei Ingram: für ihre Anwesenheit, ihre Worte und den Mut, den sie versucht zu wecken. Doch auch die 88-Jährige wirkt dankbar für den Austausch mit den Hamburger Jugendlichen. „Ich bin so stolz auf eure Generation“, erzählt sie. „Ich kann kaum sagen, wie stolz ich bin und wie viel Kraft ich von euch bekomme.“ Ingram sprach auch schon bei der Verleihung des Bertini-Preises in Hamburg.

Hamburger Holocaust-Überlebende über die Situation in Gaza

Mit den Hamburger Jugendlichen spricht Ingram nicht nur über ihr eigenes Leben: Auch aktuelle politische Krisen beschäftigen die 88-Jährige. In den USA, wo Ingram heute mit ihrer Familie lebt, demonstriert die Aktivistin und Autorin unter anderem gegen den Nahostkonflikt in Israel und Gaza. Für sie ist das ein Genozid. „Es ist meine Meinung, weil ich die Erfahrungen habe, wie es ist, ein Kind im Krieg zu sein. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn ein Land dich zerstören will.“ Die 88-Jährige findet, dass alle Jüdinnen und Juden sicher sein sollten, doch durch das Verhalten von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seiner Regierung sei das jetzt nicht mehr möglich.