Hamburg. 78 junge Hamburger, die sich für ein solidarisches Zusammenleben engagieren, wurden ausgezeichnet. Besonderer Gast hielt Rede.

Es ist mucksmäuschenstill im Ernst Deutsch Theater, als die Holocaust-Überlebende Marione Ingram bei der 24. Verleihung des Bertini-Preises ihre Lebensgeschichte erzählt. Wenige Tage vor dem Hamburger Feuersturm erhielt ihre Familie im Sommer 1943 den Deportationsbefehl. Ihre jüdische Mutter schickte die damals siebenjährige Marione und ihre Schwestern zu einem Onkel. Als die Mädchen wiederkamen, fanden sie die Mutter bewusstlos vor, mit dem Kopf im Gasofen. Es dauerte viele Stunden, bis die Mutter wieder erwachte. „Das war die längste Nacht meines Lebens“, erzählt Ingram im Theater an der Mundsburg.

Bertini-Preis: Holocaust-Überlebende spricht bei Verleihung

Ausgerechnet die Flächenbombardierung der Alliierten, der Feuersturm, rettete sie und ihre Familie vor der Deportation. Doch tagelang irrte Marione an der Hand ihrer Mutter, eingehüllt in eine feuchte Decke, durch die brennenden Straßen. „In die Zivilschutzbunker durften wir als Juden nicht hinein“, erzählt sie. Sie stiegen über feuerverkohlte Körper. Die Nazis hielten auch sie für tot. Später konnte ihr Vater dafür sorgen, dass sie sich in einer Gartenlaube in Rahlstedt, manchmal auch in einem nahe gelegenen Erdloch, verstecken konnten.

„Eine der wichtigsten Lektionen des Holocaust ist es, sich für diejenigen einzusetzen, die heute unterdrückt werden“, gibt die 86-Jährige den diesjährigen Bertini-Preisträgerinnen und -Preisträgern mit auf den Weg. Und es hätte wohl keine bessere Festrednerin geben können bei der Verleihung der nach Ralph Giordano (1923-2014) und seinem berühmten Roman „Die Bertinis“ benannten Auszeichnung.

Schüler befragen Marione Ingram per Videokonferenzen

Denn eine der preisgekrönten Projekte befasste sich mit ihrem Schicksal. Die Schülerinnen und Schüler des Friedrich-Ebert-Gymnasiums tauschten sich per Videokonferenzen ausführlich mit der seit vielen Jahren in den USA lebenden Ingram aus, befragten sie und entwickelten daraus Theaterszenen, die die zunehmende Ausgrenzung und Verfolgung der Familie nachzeichnen.

Einer der Schüler, der 16-jährige Hugo Dunkel, erzählt, wie bewegend er es fand, dass das Kind Marione nicht nur von den Nazis, sondern auch von ihren Freunden und Mitschülern verstoßen wurde.

Bertini-Preis: Vier Schülergruppen ausgezeichnet

Ausgezeichnet wird auch die Kampagne „Wir geben EUCH nicht ab!“ der Nelson-Mandela-Schule in Wilhelmsburg, die sich gegen die drohende Abschiebung einer Mitschülerin engagiert hat. „Gegen das Vergessen“ ist das Motto eines Projekttages der Ilse-Löwenstein-Schule (Uhlenhorst), um die Erinnerung an die Namensgeberin Ilse Löwenstein wachzuhalten.

„Menschsein ist eine Entscheidung“ ist das vierte Projekt, das einen Preis erhielt. Das Theaterstück des Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums (Wilstorf) brachte rassistisch motivierte Gewalttaten aus der jüngsten Vergangenheit auf die Bühne. Der Preis für Zivilcourage und gegen das Vergessen ist mit insgesamt 10.000 Euro dotiert. Die Preisträger waren am 27. Januar bekannt gegeben worden, wegen der Corona-Pandemie musste die Verleihung der Auszeichnungen auf den 8. Mai verschoben werden.

Melanie Leonhard: „Demokratie muss beständig erstritten werden“

Das Engagement dieser Jugendlichen sei zukunftsweisend, sagt Theaterintendantin Isabella Vértes-Schütter, Vorsitzende des Bertini-Preis e.V. „Demokratie ist nicht selbstverständlich, sie muss beständig erstritten werden“, sagt Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) in einem Grußwort – auch mit Blick auf den Angriffskrieg in der Ukraine.

Marione Ingram engagierte sich nach dem Krieg viele Jahre lang in den USA für Bürgerrechte und gegen Rassendiskriminierung. Im Hinblick auf Demokratie und Menschenrechte habe sich Deutschland, findet sie, vom schlechtesten Beispiel zu einem der besten gewandelt.