Berlin. Fast die Hälfte aller Lehrkräfte beobachtet laut einer aktuellen Umfrage Gewalt unter Schülerinnen und Schülern. Was ist da los?
Wenn Birgit Wagner von ihrem Alltag erzählt, klingt es, als würde sie über Bandenkämpfe reden. „Manche Schüler schalten ihre älteren Geschwister in einem Streit ein: Da lauern dann mehrere Teenager plötzlich einem Fünftklässler auf. Es ist wirklich unfassbar.“ Die Lehrerin berichtet am Telefon, was auf dem Schulhof los ist, wie sich Schülerinnen und Schüler bedrohen und duellieren. Wie brutal das Kräftemessen geworden ist. Und wie es dabei immer wieder knallt.
Seit vielen Jahren unterrichtet Wagner an einem großen Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Und beobachtet: „Viele Schüler wollen sich mittlerweile schützen: Die haben ein Messer im Schulranzen dabei. Eigentlich dürfen sie das natürlich nicht, aber sie wollen sich im Notfall verteidigen können.“ Weil niemand weiß, wer als Nächstes zuschlägt.
„Es gibt eine irre Verrohung auf den Schulhöfen“
Der Name Birgit Wagner ist ein Pseudonym, die Lehrerin will nicht erkannt werden. Zu groß ist ihre Angst vor den eigenen Schülern. Doch sie möchte über die Probleme reden, weil sie die Zustände nicht mehr erträgt. Und was sie berichtet, ist kein Einzelfall. Wagners Erfahrungen spiegeln einen Trend wider: Kürzlich berichtete die Robert Bosch Stiftung, dass 47 Prozent der deutschen Lehrkräfte Gewalt unter ihren Schülern beobachten – sowohl psychische als auch physische. Mehr als jede dritte Lehrkraft fühlt sich demnach mehrmals pro Woche emotional erschöpft. Wenn man mit Pädagogen und Fachleuten darüber redet, bekommt man eine Vorstellung davon, was in den Schulen abläuft. Und was die Gründe dafür sein könnten.
Mehr dazu: Jeder zweite Lehrer beobachtet Gewalt unter Schülern
„Es gibt eine irre Verrohung auf den Schulhöfen“, sagt Wagner. „Da reichen die hanebüchensten Gründe. ‚Der ist Kurde, Albaner, Grieche, Jude oder Christ‘ lautet der Vorwurf – und schon bricht der nächste Streit los.“ Wagner sagt, früher hätten sich mal zwei Schüler auf dem Pausenhof geprügelt und damit war der Streit häufig geklärt. Heute würde durch die sozialen Medien alles weiter befeuert. Ein Gerücht verbreitet sich, ein Wort ergibt das nächste, manchmal wollen sich die Schüler in den Chats regelrecht überbieten.
Erst wenn man mit den Schülern spricht, entwickeln sie ein Problembewusstsein
Und das betrifft nicht nur die weiterführenden Schulen. Davon kann Kerstin Tegtmeyer berichten. Die 61-Jährige engagiert sich bei „Seniorpartner in School“, einem Programm, bei dem Rentner ehrenamtlich an Schulen als Mediatoren arbeiten. Tegtmeyer ist seit sechs Jahren an Grundschulen in Brandenburg im Einsatz und sagt: „Die Grundschüler dürfen Whatsapp offiziell noch nicht benutzen – deswegen gibt es für sie oft auch keine Schulungen. Im Alltag nutzen es viele natürlich trotzdem. Da werden Fotos hin- und hergeschickt, teilweise mit abgehackten Genitalien. Es ist wirklich übel.“ Tegtmeyer sagt, ein Großteil der Kinder verstünde gar nicht, was sie da versendeten. Erst wenn sie mit ihnen spreche, gebe es ein Problembewusstsein.
Nicht alle, die solche Fotos verschicken, werden selbst gewalttätig. Doch die Verbreitung brutaler Bilder führe manchmal eben zu brutalen Handlungen, sagen Pädagogen. Manche Lehrer berichten, wie durch die sozialen Medien im Umgang miteinander etwas ins Rutschen geraten ist. Whatsapp könne dabei wie ein Katalysator für die Gewalt wirken.
Sogar die Eltern setzen mittlerweile die Lehrer unter Druck
Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) beobachtet die Verrohung an den Schulen schon länger. In einer Umfrage des Verbands von vor zwei Jahren gab knapp die Hälfte der befragten Schulleiterinnen und Schulleiter an, dass Fälle psychischer und physischer Gewalt an ihrer Schule seit Beginn der Corona-Pandemie zugenommen hätten. Der Verband warnt vor allem vor einer Zunahme der Gewalt gegen Lehrkräfte. 62 Prozent der Schulleiter berichteten schon damals, dass es an ihrer Schule Fälle gegeben habe, in denen Lehrer Opfer verbaler Gewalt geworden seien. 32 Prozent gaben zudem an, dass Lehrkräfte auch körperlich angegriffen wurden.
Teilweise würden sogar die Eltern versuchen, massiven Druck auf die Lehrer auszuüben, sagt der stellvertretende Bundesvorsitzende des VBE, Tomi Neckov: „Doch eine schlechte Note des eigenen Kindes darf keine Rechtfertigung für Einschüchterung der Lehrkraft sein. Wir alle müssen an einem konstruktiven Dialog festhalten.“ Auch er schreibt den Medien eine Mitschuld zu: „Gerade in den sozialen Medien kann man teilweise Videos sehen, in denen Gewalt verharmlost wird. Auch Cybermobbing ist weiterhin ein großes Thema.“
„Bei uns fanden eine Weile heimlich Boxkämpfe in der Turnhalle statt“
Mobbing in den sozialen Medien, das ist etwas, das auch Angelika Martens beobachtet. Sie ist Mathematiklehrerin in Berlin, auch sie möchte ihren wahren Namen nicht in der Zeitung lesen. „Ich führe mit meinen Schülern Gespräche und frage sie: Wie fändest du es, wenn so etwas über dich in Gruppen geschrieben wird? Manche zeigen dann Einsicht, andere nicht“, erzählt sie. Und sie sagt: „Bei uns fanden eine Weile heimliche Boxkämpfe in der Turnhalle statt. In der Mittagspause verabredeten sich die Schüler und haben sich dann dort geprügelt.“ Fast jeder Lehrer kann Ähnliches berichten, fast überall gibt es Auseinandersetzungen.
- Politik-News: Die wichtigsten Nachrichten des Tages aus der Bundespolitik im Blog
- Neue Partei: Bundestagsabgeordnete der Grünen wechselt zur CDU
- Gerichtsurteil: Keine Waffen für AfD-Mitglieder? Jäger und Schützen unter Druck
- Klimawandel: Fluten, Hitze, Erdrutsche – So müssen Kommunen Bürger schützen
- Parteitag: AfD-Delegierter beißt Demonstranten – Video zeigt Vorfall
Es gebe mittlerweile ein Gefühl der Unsicherheit an deutschen Schulen, sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Stefan Düll. Düll ist ein erfahrener Pädagoge, er kennt die Fälle, er kennt die Probleme. „Es gibt eine gewisse Verrohung in der Gesellschaft, die sich auch auf die Schulen überträgt“, sagt Düll. Über soziale Medien kämen Jugendliche heute schneller mit Gewaltszenen in Berührung. Zudem gebe es immer wieder junge Menschen, die von klein auf Misserfolge erleben würden und deswegen frustriert seien, fügt er hinzu. Und er sagt: „Wir haben auch Schülerinnen und Schüler mit Fluchterfahrungen, die Gewalt erlebt haben.“ Bei Gewalttaten handele es sich aber immer um Einzelfälle – die sowohl bei Menschen mit als auch bei Menschen ohne Migrationshintergrund vorkämen.
Die Schulen stecken in der Zwickmühle: Wie sehr soll die Gewalt thematisiert werden?
Insgesamt sei die Zahl der Gewaltdelikte an Schulen allerdings immer noch gering, betont er. „Aber auch Einzelfälle führen natürlich zu einer Verunsicherung bei der Eltern- und Schülerschaft.“ Deswegen sei es wichtig, alles dafür zu tun, dass Schule ein sicherer Ort sei und bleibe. „Fälle von Gewalt an Schulen dürfen nicht vertuscht oder unter den Teppich gekehrt werden“, sagt Düll. „Ich denke nicht, dass das zu einem Imageverlust einer Schule führt, sondern im Gegenteil, dass das zeigt, dass die Schule bewusst dagegen vorgeht und die Sicherheit priorisiert.“
Darin liegt die Abwägung. Viele Lehrkräfte berichten, wie sie die Gewalt thematisieren, wie sie mit ihren Schülern darüber sprechen. Andererseits wollen viele auch in Ruhe ihren Unterricht machen – und durch den Fokus auf die Auseinandersetzungen die Streitigkeiten nicht zusätzlich verstärken.
Gegen Ende des Telefonats atmet Birgit Wagner, die Lehrerin aus Nordrhein-Westfalen, hörbar aus. Sie macht eine kurze Pause, es wird still in der Leitung. Dann sagt sie: „Der Umgang wird rauer. Und wir Lehrer sehen wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs.“