Hamburg. Hamburger Lehrer Gorden Tabibi: „Fast jede meiner Schülerinnen, die auf Social Media unterwegs ist, hat sexuelle Belästigung erlebt.“
Fragt man die Fünftklässler an der Hamburger Stadtteilschule Meiendorf, wer von ihnen TikTok benutzt, meldet sich nicht einmal die Hälfte. Doch diejenigen, die die App installiert haben, haben viel zu erzählen. Laut der aktuellen JIM-Studie ist die umstrittene Videoplattform des chinesischen Technologieunternehmens Bytedance die zweitbeliebteste Social-Media-Plattform unter Zwölf- und 13-Jährigen. Damit folgt TikTok unmittelbar hinter WhatsApp, das bei Teenagern über alle Altersstufen hinweg auf Platz eins liegt. TikTok dagegen verliert mit zunehmendem Alter leicht an Bedeutung und rangiert im 19. Lebensjahr nur noch auf Platz vier.
TikTok an Hamburger Schulen: Zwischen Tanzvideos und Hammer Challenge
Bis es aber so weit ist, haben Kinder und Jugendliche bereits einiges gesehen. Viele Videos sind harmlos. Typische TikTok-Beiträge sind Tanzvideos, Tutorials (zu Deutsch: Anleitungen) und Challenges, kleine Aufgaben, die nachgemacht werden sollen. Doch schon hier machen sich erste Warnzeichen bemerkbar. Während die Candy Challenge nur dazu aufforderte, unbekannte Süßigkeiten zu testen, geht es bei der Hot Chip Challenge darum, einen speziellen Chip zu essen, der so scharf ist, dass er die Magenschleimhaut schädigen kann. Mittlerweile wurde das Produkt in Deutschland vom Markt genommen.
Die Schmerzgrenze der Challenges ist damit noch längst nicht erreicht. Achtklässler im Alter von 13 bis 15 Jahren berichten: „Bei der Hammer Challenge muss man sich einen Hammer in den Mund stecken und schauen, ob er reinpasst.“ Rein ja, raus ist meistens schwieriger... Noch weitaus schmerzhafter ist die Bone-Smashing-Challenge, zu Deutsch: die Knochenbrecher-Aufgabe. „Dabei schlägt man sich mit einem Hammer gegen den Kiefer, um eine bessere Jawline zu kriegen.“ Der Knochen soll kaputtgehen, damit er anschließend in einer vermeintlich schöneren Position wieder heilen kann. Ein klarer Fall von: Bitte nicht nachmachen! Funktionieren kann es ohnehin nicht.
„Nicht alle Challenges sind so gefährlich“, das ist den Meiendorfer Achtklässlern wichtig zu betonen. Aber: „Gute Challenges sind nur nicht so packend, die merkt man sich weniger.“ Wem etwas nicht gefällt, der kann – in der Theorie – den „Nicht interessiert“-Button klicken, um Inhalte abzuwählen. Doch der Eindruck der Jugendlichen ist: So etwas funktioniert, wenn überhaupt, nur kurzzeitig. Wenn der Trend zu stark ist, werden die Videos so oder so angezeigt. Außerdem kommen Themen immer wieder.
TikTok bei Kindern: Eltern sind überfordert
Ob sie über das, was sie sehen, mit ihren Eltern reden? Die einhellige Meinung dazu lautet: Nein, die haben keine Ahnung, was ich da mache. Trotzdem spielt die Familie eine große Rolle – und zwar als Vorreiter. „Ich habe schon vor Jahren über das Handy von meiner Tante TikTok geschaut.“, „Mein Bruder hat mir TikTok gezeigt.“, „Meine Mutter hat das auch.“
Dass Eltern trotzdem oft nicht im Blick haben, welchen Einflüssen ihre Kinder auf den Plattformen ausgesetzt sind, erklärt Lehrer Gorden Tabibi durch verschiedene Faktoren. Zum einen ist da der finanzielle Druck: „Meist müssen beide Eltern Vollzeit arbeiten, um über die Runden zu kommen“, dazu kommen mitunter sprachliche Barrieren und kulturelle Unterschiede: „Das bedeutet nicht, dass den Eltern ihre Kinder egal wären. Aber sie haben selbst sehr zu kämpfen und sind froh, wenn ihre Kinder sich selbst beschäftigen. Wie, ist dann nicht so wichtig.“
Auch unter Eltern ohne Migrationshintergrund mangele es beim Thema Social Media oft an Interesse. Tabibi beobachtet einen neuen Trend: „Viele Eltern sind der Ansicht: Wenn du dein Kind kontrollierst, vertraust du ihm nicht.“ Dass auch ein vertrauenswürdiges Kind mit elf, 13 oder 15 Jahren Situationen falsch einschätzen kann, scheint kaum eine Rolle zu spielen. „Ich habe neulich für die Eltern aus meiner Klasse einen Informationsabend angeboten, um über die Gefahren von Social Media aufzuklären. Dabei wollte ich ihnen eine Software vorstellen, mit der sie ihre Kinder besser schützen können. Nicht einer ist gekommen.“
Schule Hamburg: Zahlreiche Fünftklässler von Cybergrooming betroffen
Das geringe Interesse scheint besonders bedenklich, wenn man die Schülerinnen und Schüler nach ihren Erfahrungen mit Erwachsenen im Netz fragt. Besonders die Fünftklässlerinnen haben eine Menge zu erzählen. Ein Mädchen berichtet, ein circa 30-jähriger Mann habe sie auf TikTok angeschrieben: „Hallo Süße“, und sich mit ihr treffen wollen. Sie habe ihn daraufhin blockiert und ihrer Mutter von dem Vorfall erzählt. Ihre Klassenkameradinnen haben ähnliche Geschichten erlebt – und auch einige der Jungs. Einer von ihnen berichtet, eine Frau – mutmaßlich – habe ihn angeschrieben und gefragt, ob er „sich mit ihrem Mann treffen“ wolle.
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Was die Kinder beschreiben, heißt Cybergrooming. Erwachsene suchen über das Internet Kontakt zu Minderjährigen, um sie zu Treffen, sexuellen Handlungen oder dem Austausch von (Nackt-)Bildern zu überreden. Laut polizeilicher Kriminalstatistik wurden im Jahr 2023 in Deutschland insgesamt 2580 Fälle von Cybergrooming erfasst, ein Plus von rund zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Dunkelziffer dürfte um einiges höher liegen, da das Thema noch immer als schambehaftet gilt. Immerhin, fast alle betroffenen Fünftklässler berichten, dass sie zumindest in diesen Extremsituationen ihre Eltern zur Hilfe rufen. Gemeinsam hätten sie die Täter blockiert, über Anzeigen nachgedacht, mitunter auch die App gelöscht.
Gamechats: „Hier überprüft niemand, was im Chat geschrieben wird“
TikTok ist derzeit die wohl politisch umstrittenste Plattform, aber sicher nicht die Einzige, auf der jugendgefährdende Inhalte verbreitet oder Kinder von Erwachsenen belästigt werden. Immer wieder, so die Elf- bis 13-Jährigen, komme es vor, dass sie von fremden Nummern per WhatsApp angeschrieben oder angerufen würden. Ihr Lehrer führt das vor allem auf dubiose In-App-Käufe und Downloads zurück, bei denen Daten ungeschützt preisgegeben werden.
Dazu kommen weitere Plattformen wie Snapchat oder Instagram. Zu Letzterem sind sich einige der befragten Kinder sicher: „Der Hate (Hass) hier ist noch viel extremer als auf TikTok.“ Die Statistik des Kompetenznetzwerks gegen Hass im Netz zeigt an der Spitze der Hasskommentare allerdings TikTok sowie X, ehemals Twitter. Neben den klassischen Kommunikations-Apps werden auch Chats auf Gaming-Plattformen wie Fortnite oder Roblox mehr und mehr zur Kommunikation genutzt. Lehrer Tabibi sieht das kritisch: „Auf Social-Media-Plattformen findet zumindest noch ein Hauch von Moderation statt. Bei Fortnite und Co. ist das anders. Hier überprüft niemand, was im Chat geschrieben wird.“
Kinder erleben auf Online-Plattformen wie Chatroulette und OME TV Exhibitionismus
Besonders erschreckend sind allerdings die Schilderungen zu Chatroulette und OME TV. Diese Plattformen ermöglichen es, mit zufällig zugeordneten Fremden zu schreiben oder zu viedeochatten. „Einmal war da ein Mann in der Kamera“, erzählt eine Elfjähige. Er habe sie und ihre Freundin gefragt, ob sie mal „was sehen wollen“. Die Mädchen hätten abgelehnt. Dennoch habe der Mann ihnen kurz darauf seine Genitalien präsentiert. Die Fünftklässlerin erzählt tapfer von dem Ereignis. Trotzdem muss sie einige Wörter auslassen. Sie sind ihr offensichtlich unangenehm.
Peinlich hin oder her: „Es ist wichtig, dass Kinder über die Dinge sprechen, die ihnen widerfahren“, so Tabibi. Als Lehrer bekommt er viel von dem mit, was die Jugendlichen beschäftigt. Regelmäßig lässt er sich TikTok-Trends und andere Videos zeigen. Aber: „Ich kann nicht für 23 Kinder den Vater ersetzen.“ Es sei wichtig, dass auch den Eltern die Chancen und Risiken von Social Media bewusst seien. Er selbst steht neuer Technik an sich offen gegenüber. Doch gefährlich werde es, „wenn die Kinder spüren, ,hier hat keiner Zeit für mich‘ und sie sich dann – allein – ihre eigene, digitale Parallelwelt erschaffen“.