Hamburg. Die chinesische Plattform wird mit immer mehr Unglücken in Verbindung gebracht. Das ist so nicht länger hinnehmbar.
Wir leben in einem Land, das eine fast zärtliche Beziehung zu Verboten hat: Wer die Formel „Verbot gefordert“ in eine Internetsuchmaschine eingibt, bekommt mit 11,3 Millionen Treffern Lesestoff bis zum Jüngsten Tag: Da will man Privatjets aus dem Verkehr ziehen, Böller für immer entsorgen, Indexmieten auf den Index setzen, den Verkauf von E-Zigaretten abblasen oder die Jagd in die ewigen Jagdgründe schicken. Drolligerweise sind die Alt-68er, die einstmals noch Verbote verbieten wollten, besonders eifrig dabei, die Grenzen des Erlaubten immer enger zu fassen.
Manche Verbote sind sinnvoll – von bleihaltigem Benzin über FCKW, von Volksverhetzung bis zum Knarrenkauf. Und eines sollte bald hinzukommen: ein Verbot von TikTok. Die extrem erfolgreiche App des chinesischen Unternehmens Bytedance, die schneller als alle andere Social-Media-Plattformen vor ihr ein Milliardenpublikum erreicht hat, kommt unschuldig daher – hat aber inzwischen mehrere Kinder auf dem offenbar nicht vorhandenen Gewissen.
TikToks tote Kinder
In Italien starb im Januar 2021 die zehnjährige Antonella, nachdem sich das Mädchen per Smartphone gefilmt hatte, wie es sich mit einem Gürtel selbst stranguliert. Denn die sogenannte „Blackout-Challenge“, bei der sich die Kinder zur Ohnmacht würgen und anschließend die Videos im Netz hochladen, trenden.
Im August 2022 fand eine Mutter in Schottland ihren 14-jährigen Sohn tot im Kinderzimmer – Leon hatte sich selbst die Luft abgeschnürt und gefilmt. Auch der Fall des zwölfjährigen Archie aus Großbritannien machte Schlagzeilen. Seine Mutter hatte den Jungen bewusstlos, mit einem Band um den Hals, gefunden – vermutlich ebenfalls nach eine TikTok-Mutprobe. Der Junge fiel ins Koma, Ärzte erklärten ihn für hirntot, Gerichte ordneten schließlich das Abschalten der lebenserhaltenden Systeme an.
Ob Archie, Leon oder Antonella – diese furchtbaren Unglücke sind eben keine Einzelfälle. Und auch der Begriff Unglück ist unscharf. Vor wenigen Tagen endete die „Herausforderung Ohnmacht“ für die zwölfjährige Milagros in Argentinien tödlich, kurz davor erstickte so der zwölfjährige Tristan aus Ohio.
Die Eltern eines acht- und eines neunjährigen Mädchens, die in Wisconsin starben, haben TikTok verklagt: Sie werfen der Plattform vor, der Algorithmus habe den Mädchen die Blackout-Challenge vorgeschlagen. Ein Mädchen strangulierte sich mit einem Seil, die andere mit einer Hundeleine zu Tode.
Tödliches Zugunglück wegen TikTok-Video in Neuallermöhe?
Es gibt noch andere TikTok-Herausforderungen, die tödlich enden. Vor zwei Jahren war ein 18-jähriger Pakistaner entlang an Bahngleisen gelaufen, um sich für Tik-Tok zu filmen. Ein Zug überfuhr den Jungen. Das Unglück erinnert fatal an Neuallermöhe – am Dienstag erfasste der Triebwagen eines Regionalzuges zwei 18-jährige Zwillingsschwestern. Mehrfach hatten die Mädchen zuvor ihre Gleisvideos auf TikTok veröffentlicht – das letzte nur eine Stunde vor dem tödlichen Drama.
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Weitere TikTok-Challenges schubsten Kindern ins Verderben – etwa die Mutprobe, das Antihistaminikum Benadryl einzunehmen oder mit Magneten ein Zungenpiercing zu imitieren. Nun gab es tödliche Mutproben schon vor der Erfindung der Social Media, und TikTok verweist auf seine Löschroutinen. Und doch setzt Bytedance offenbar auf einen Algorithmus, der Kinder und Jugendliche in Lebensgefahr bringen kann.
TikTok-Algorithmus kann tödlich sein
Natürlich hat TikTok meist lustige Videos und Tanzsequenzen im Angebot, doch hinter dem Freundlich-Spielerisch-Lustigen lauert eine dunkle Seite, das sogenannte „PainTok“ oder „SadTok“: Hier teilen junge Menschen ihre Videos über Depressionen, Selbstverletzung oder Suizid. Recherchen des Bayerischen Rundfunks haben ergeben, dass der TikTok-Algorithmus diesen Nutzern schnell fast nur noch solche gefährlichen Inhalte ausspielte.
Nun macht die EU-Kommission Druck. Sie hat TikTok weitreichende Sanktionen angedroht, sollte sich das Unternehmen nicht endlich an europäische Regeln halten. „Es ist nicht hinnehmbar, dass Nutzer hinter scheinbar lustigen und harmlosen Funktionen in Sekundenschnelle auf schädliche und manchmal sogar lebensbedrohliche Inhalte zugreifen können“, sagte EU-Kommissar Thierry Breton am Donnerstag.
Recht hat er. Warum sollten wir TikTok leben lassen, wenn so viele Kinder dafür ihr Leben lassen?