Hamburg. Expertin über gefährlichen Trend bei Influencern auf TikTok und Instagram. Jungfernstieg-Gang zeigt sich mit Messern und Pistolen.
Sie zeigen sich vermummt, tragen Sonnenbrillen, glänzende Daunenjacken, Goldschmuck. Die Hände, die glänzende Pistolen direkt in die Kamera halten, stecken in schwarzen Handschuhen. Im Hintergrund Hamburger Orte, Boutiquen am Neuen Wall, Jungfernstieg oder Jenfelder Siedlungen. Dazu wummert ein Bass, die Sätze sind eher geschrien als gesprochen.
In den kurzen, rasant geschnittenen Handyvideos wird oft gerappt, auch dann ist die Sprache laut und derb, voller Schimpfworte, Beleidigungen und Abwertungen, beispielsweise gegenüber Frauen. Die Jugendgang 315er, die auf dem Jungfernstieg abhängt, zeigt in den sozialen Medien wie TikTok und Instagram deutlich ihre Haltung.
„Hier wird ein bestimmtes Männlichkeitsbild verherrlicht“, erklärt Katharina Kleinen-von Königslöw. Die Kommunikationswissenschaftlerin der Universität Hamburg forscht seit vielen Jahren zur Wirkung von Kommunikation über soziale Netzwerke und Smartphones. „Junge Männer zeigen sich hier als besonders mächtig, cool und stark. Durch solche Videos identifizieren sich die Jugendlichen untereinander und stiften sich an, schaukeln sich hoch. Deshalb findet man in den sozialen Medien viele Influencer mit Waffen, Tattoos und dicken Muskeln“, sagt Kleinen-von Königslöw.
Andrew Tate: Prominenter Influencer festgenommen – wegen Menschenhandels
Prominentes Negativ-Beispiel: Gerade erst wurde in Rumänien der britisch-amerikanische Influencer Andrew Tate festgenommen. Er hatte zuletzt 4,7 Millionen Follower, bevor seine Accounts 2022 gesperrt wurden, sitzt in Untersuchungshaft und wird wegen Menschenhandels und Ausbeutung junger Frauen angeklagt. Er gilt als sogenannter Incel-Influencer, der in seinen Videos Frauenfeindlichkeit propagiert.
„Das Problem bei solchen Influencern wie Tate ist, dass er mit Fitness-Videos angefangen hat. Es war erst überhaupt nicht ersichtlich, in welches Umfeld das weiterführt“, sagt Kleinen-von Königslöw. Was jedoch klar ist: „Für Männer ab 14 Jahren sind solche Typen absolute Helden, weil sie toll aussehen, Muskeln haben, viel Geld und große Autos.“ In diesem Stadium der Entwicklung seien die Jungen auf der Suche nach starken Vorbildern.
Jungfernstieg Hamburg: 315er-Jugendgang findet durch Videos Nachahmer
Mit eben diesem Mechanismus funktioniere auch die Gruppenzusammengehörigkeit der 315er vom Jungfernstieg. Hier eifern junge Männer demselben, vermeintlich starken Männlichkeitsbild nach. „Krasse Videos führen auf jeden Fall zu Nachahmungstaten, das stiftet an, bestimmte Aktionen auszuführen“, sagt die Wissenschaftlerin. „Manche Aktionen werden zudem nur gemacht, damit sie gefilmt und dann als Video in den sozialen Medien online gestellt werden können.“
Kleinen-von Königslöw unterscheidet zwischen den Followern, die den Influencern nacheifern, weil sie das Gezeigte als den Ausweg aus ihrem aktuellen Leben sehen: raus aus der Flüchtlingsunterkunft, raus aus dem Prekariat und der vermeintlichen Chancenlosigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft. „Für diese Männer wirkt der Weg über Posing, über Gang-Influencertum erst einmal einfacher, um an Geld zu kommen – auch wenn das natürlich nicht so einfach ist“, meint sie.
Dazu fehlten reale, männliche Vorbilder im Umfeld. Oftmals seien diese zwar da, aber beispielsweise durch Fluchtgeschichten gebrochene Persönlichkeiten.
Polizei Hamburg: Suche nach Vorbildern lässt Jugendliche Gewaltvideos drehen
Doch nicht alle, die sich in den sozialen Medien als Gang-Influencer hervortäten, hätten eine solche Biografie. Die anderen, die Poser-Videos drehten, seien junge Männer, die sich „vom bürgerlichen Kontext abgrenzen wollten und auf der Suche sind“, sagt die Expertin. „Das Männerbild ist gerade insgesamt am Wackeln – was ist sichtbar an Helden?“, fragt Kleinen-von Königslöw.
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Aus Mangel an anderen attraktiv erscheinenden Vorbildern posierten dann auch solche Jugendliche mit Messern und Sturmhaube, die nebenbei fürs Abi lernten und dies nicht als kompletten Lebensinhalt sehen würden.
Sieht sie einen Ausweg aus dieser sich steigernden Posing-Spirale, deren Realität zwischen Jenfeld und Jungfernstieg spielt? „Für einzelne Jugendliche kann das durchbrochen werden: durch die neue Freundin, die das uncool findet. Oder den einen Lehrer, der den Jungen so sieht, wie er wirklich ist. Oder einer bekommt doch einen Ausbildungsplatz“, meint Kleinen-von Königslöw. „Deshalb ist die Jugendarbeit so wichtig, es ist so bedeutend, dass es alternative Orte und Angebote gibt, wo man hingehen und einfach mal kickern kann.“