Hamburg. Neue Stufe der Kriminalität: Nach Gewaltdelikten steigen Hamburger Jugendliche in den Drogenhandel ein. Ihre Brutalität macht fassungslos.

  • Die Jugendbande der 315er machen schon lange nicht mehr nur den Jungfernstieg unsicher
  • Auch in der nahen Europa-Passage oder am Ballindamm kam es bereits zu Straftaten der 14- bis 20-Jährigen
  • Selbst auf Polizisten ist die Jugendbande burtal vorgegangen.

Seit Februar ist die Soko „Alster“ aus der Winterpause zurück. Vor wenigen Tagen konnte durch die Ermittlungen ein Haftbefehl gegen Amir N. erwirkt werden. Der 18 Jahre alte Intensivtäter aus einer Folgeunterkunft in Billstedt gilt als einer der Rädelsführer der 315er, einer der Gruppen, die seit Jahren am Jungfernstieg immer wieder für Probleme sorgen. Die Ermittlungen zeigten: Die Jugendgruppen haben offenbar eine neue Stufe der Kriminalität erklommen und sind ins Drogengeschäft eingestiegen.

315er, das ist eine Gruppierung, die sich nach einem Stellplatz in einem Parkhaus in Jenfeld benannt hatte. Dort war früher ihr Treffpunkt gewesen, weil man von dort gut über den Stadtteil blicken kann. Dann verlegte die Gruppe ihren Treffpunkt an den Jungfernstieg. Und fand dort ein schönes „Pflaster“, um abzuhängen. Sitzgelegenheiten, gute Nahverkehrsanbindung aus allen Himmelsrichtungen, freies WLAN am nahen Apple-Shop.

Eine andere Gruppe, die den Jungfernstieg für sich entdeckte, sind die 19/20er. Lange war gerätselt worden, was der Name bedeutet. Mittlerweile glaubt man bei der Polizei, dass es mit einem Film zu tun hat.

Jungfernstieg: Den harten Kern der Gruppen bilden etwa 30 Jugendliche und Heranwachsende

Beide Gruppen werden auf 20 bis 30 Jugendliche und Heranwachsende geschätzt. „Das ist der harte Kern. Dazu kommen Mitläufer“, so ein Beamter. Die Klientel charaktasiert er so: Fast alle haben einen Migrationshintergrund. Sie sind zwischen 14 und 20 Jahre alt. Es seien viele Afghanen, Iraner, Pakistani und hin und wieder sei auch mal ein Syrer dabei. Ukrainer waren 2023 in der Szene aufgetaucht. Oft als Opfer. In der Regel wohnen sie in öffentlichen Unterkünften. Das ist zumeist mit großen Familien und wenig Platz verbunden. So ist der gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichende Jungfernstieg für viele so etwas wie das „Wohnzimmer“.

Nicht nur der Jungfernstieg, auch die Umgebung ist betroffen

Das Problem: Die Gruppen am Jungfernstieg hatten immer wieder Streit untereinander. Es kam zu Schlägereien am Jungfernstieg selbst, aber auch im Bereich Europa-Passage oder am Ballindamm. Auch andere junge Leute wurden Opfer. Neu ist dieses Phänomen nicht. Schon vor mehr als zehn Jahren hat die Polizei damit begonnen, dort verstärkt Präsenz zu zeigen. Viele junge Leute, dazu Alkohol – diese Mischung führte zu hohem Streitpotenzial. Nach der Flüchtlingskrise 2015 nahm das Problem weiter Fahrt auf.

Bereits 2016 war gegen eine Gruppe Jugendlicher und Heranwachsender ermittelt worden, die dort immer wieder auffiel. Innerhalb eines Monats wurden fünf Straftaten bekannt, darunter mehrere Körperverletzungsdelikte, aber auch ein sexueller Übergriff auf eine Frau. Schließlich nahm die Polizei einen 20 Jahre alten Ägypter und zwei 15 und 19 Jahre alte Komplizen fest

Jungfernstieg: Einem Polizisten wurde die Kniescheibe herausgetreten

2021 sorgte ein Vorfall für Aufsehen. Im Zusammenhang mit dem Vorgehen gegen Jugendliche in der Europa-Passage kam es zu einer Auseinandersetzung. Für einen Wachmann (59) war die Aufregung zu viel. Er erlitt einen Herzanfall und lag im Koma. Dann gab es Übergriffe selbst gegen die Polizei. Im April vergangenen Jahres wurde einem Polizisten von einem 19-Jährigen die Kniescheibe rausgetreten. Auch in diesem Jahr gab es bereits schwere Fälle: Im Januar prügelten und traten mehrere Jugendliche am Ballindamm auf einen 14-Jährigen ein und brachen ihm den Arm. Im Februar wurde ein 17-Jähriger am Jungfernstieg durch einen Messerstich in die Schulter verletzt. Das war auch der Grund, warum die Soko „Alster“ aus der Winterpause zurückgeholt wurde.

Gegründet worden war die Soko „Alster“ im Sommer 2023. Sie besteht aus sechs Beamten, alle aus dem Bereich Hamburg-Mitte, alle erfahren in Sachen Jugendkriminalität, die gezielt Ermittlungen gegen die Haupttäter führen – mit dem klaren Ziel, repressiv gegen sie vorzugehen.

Amir N. ist so ein Haupttäter. Wegen der vielen Straftaten, wegen derer die Polizei gegen ihn ermittelte, war er bereits als Intensivtäter eingestuft worden. Die Ermittlungen brachten völlig neue Erkenntnisse, und das verhieß nichts Gutes: Die Angehörigen der Gruppierungen waren ins Drogengeschäft eingestiegen – und zwar mit einer Brutalität, die fassungslos macht. Andere Jugendliche, 14, 15 oder 16 Jahre alt, wurden gezwungen, für sie Rauchgift – in der Regel Marihuana – zu verkaufen. Wer nicht spurte, wurde verprügelt oder erniedrigt. In mindestens einem Fall soll ein Jugendlicher gezwungen worden sein, sich auszuziehen. Immer wieder waren auch Waffen im Spiel.

Jungfernstieg: Das führte zur Verhaftung des Rädelsführers vom Jungfernstieg

Im Dezember vergangenen Jahres kam es dann zu einem Raub am Wandsbeker Quarree. Ein Jugendlicher war von Mitgliedern der 315er in ein Parkhaus gelockt worden. Ihm wurde das Handy geraubt. Es setzte Schläge. Amir N. soll ihm eine Waffe an den Kopf gehalten haben und auch hinter ihm her geschossen haben, als ihm die Flucht gelang. Wegen der Bewaffnung war es auch das SEK, das ihn jetzt verhaften sollte. Doch Amir N. war nicht in seiner Wohnung in der Unterkunft. Er wurde aber wenig später bei seiner Freundin aufgespürt und kam in Haft.

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„Wir haben es mit Gruppen zu tun, die im Rahmen der gesellschaftlichen Normen keine Chance und damit Perspektive haben“, sagt der Kriminologe Wolf-Reinhard Kemper von der Leuphana Universität in Lüneburg. „Sie wollen ein großer Gangster werden, um so ihre Vorstellung von Wohlstand mit großen Autos und Ähnlichem zu erfüllen. Sie sind bereit, dafür auch Gewalt anzuwenden. Solche Phänomene gab es schon in der 1970ern. Allerdings gab es die damals in den einschlägigen Stadtteilen. Heute drängen solche Gruppen in die Öffentlichkeit.“

Das Problem: Die Rädelsführer seien Multiplikatoren, die Jugendlichen aus dem gleichen Milieu als Vorbilder dienen. Das zeigt auch die Erfahrung der Polizei. In Gruppen vom Jungfernstieg gibt es immer wieder Fluktuation.