Hamburg. Warum die Bundesregierung nicht aus dem Umfragetief herausfindet – und was die AfD damit zu tun hat. Die Abendblatt-Kolumne.

Erinnern Sie sich noch an Helmut Kohl? Das war dieser barocke Kanzler aus dem Pfälzischen mit einer Vorliebe für seltsamen Saumagen, einer unverständlichen Mundart und einem leeren Versprechen: „geistig-moralische Wende“ genannt. Die Konservativen seiner Zeit, die der eilfertige Verfassungsschützer Thomas Haldenwang heute wahrscheinlich samt und sonders erfassen würde, warteten bis zu ihrem Ableben vergeblich darauf. Oder erinnern Sie sich noch an den Sozialismus, den viele junge Leute bei der Wahl von Willy Brandt erhofften? Oder an die versprochenen Knallhart-Reformen inklusive Kopfpauschale von Angela Merkel?

Oftmals müssen die Parteigänger der Wahlsieger viel Langmut mitbringen – so schön wie in der Wahlnacht wird es nimmer mehr. Im grauen Alltag werden bald viele Wahlversprechen gebrochen oder vergessen, auf manche wartet man so lange wie auf Godot im absurden Theater.

Politik in Deutschland: Die Wirklichkeit ist ein brutaler Zuchtmeister

Die Wirklichkeit ist ein brutaler Zuchtmeister: Willy Brandt führte nicht den Sozialismus ein, sondern die Berufsverbote. Helmut Kohls geistig-moralische Wende verwandelte sich in ein „Weiter so, Deutschland“. Sozialdemokrat Gerhard Schröder avancierte zum mutigsten Reformer der bundesrepublikanischen Geschichte, die Christdemokratin Angela Merkel hingegen ließ keinen grünen Herzenswunsch unerfüllt.

Das alles kann man kritisieren – aber vieles geschah aus Kalkül. Im Moment des Sieges oder spätestens einige Monde darauf begann das Rendezvous mit der Realität, in dem die Regierenden die andere Seite umarmen mussten. Und damit den eigenen Erfolg sichern.

Nur die Ampel zeigt sich von den Realitäten wenig beeindruckt

Das allerdings kann man dieser Bundesregierung kaum nachsagen. Sie bringt ihre Programmatik relativ stur ins Ziel, vielleicht abgesehen von der Zeitenwende, die die Ampel kalt erwischt und das Regieren ungemein erschwert hat. Wer heute manchen grünen Politikern lauscht, ahnt aber, dass der Pazifismus in der Partei der Friedensbewegung schon früher unter die Panzerräder gekommen ist.

Auffällig ist: Die Stimmung im Land ist vielen Ampelpolitikern seltsam egal – sie streiten nach Herzenslust, verpassen es, die eigenen Erfolge zu feiern, zelebrieren aber ihre Misserfolge wie die bekiffte Cannabis-Freigabe. Die Quittung bekommen die drei Parteien wöchentlich von den Demoskopen.

Die drei Parteien schaffen es mit Ach und Krach noch auf ein Drittel der Stimmen – das sind 20 Prozentpunkte weniger als bei der Bundestagswahl 2021. Und einmalig in der Geschichte der Republik: Selbst die schwarz-gelbe „Gurkentruppe“ sackte nicht tiefer als 36 Prozent (Oktober 2010), das rot-grüne „Chaos“ stabilisierte sich im Oktober 1999 bei rund 37 Prozent.

Der Ampel fehlt der Mut zu harten Entscheidungen in der Zuwanderungspolitik

Wie ist der tiefe Fall der Ampel zu erklären? Vielleicht mit dem Unwillen, die verlorenen Wähler wieder einzufangen. Erst gestern hat der ARD-Deutschlandtrend herausgearbeitet, dass Zuwanderung und Flucht das wichtigste Thema der Deutschen bleibt. Das zwingt die Ampel eigentlich zu einer deutlichen Bewegung nach rechts. Doch das Gelände ist vermint, und so wird jeder Schritt in diese Richtung mit einem Doppelschritt zurück konterkariert.

So wirbt das Auswärtige Amt nun auf Arabisch dafür, dass Ausländer bald noch schneller Deutsche werden und ihre alte Staatsangehörigkeit behalten können. Und es sind die Grünen, die die Bezahlkarte für Flüchtlinge bis zuletzt beinhart bekämpft haben.

Mitunter wirken die Grünen wie das Partei gewordene Gegenteil der AfD

Es drängt sich der Eindruck auf, ein Teil der Programmatik der Grünen schreibe inzwischen die AfD mit – die Rechtspopulisten malen das negativ, die Grünen verwandeln es in ein Positiv. Das ist demons­trativ links, menschlich nachvollziehbar, aber politisch gefährlich. Es verunmöglicht Kompromisse und entfremdet immer mehr Wähler von der eigenen Politik.

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So hat die Ampel bald alle Wechselwähler vertrieben – und die FDP ist auf dem besten Weg, sich selbst zu entleiben. Der Abschied der Ampel aus der Mitte ist ein Holzweg: Mit den Fans allein wird man keine Wahl mehr gewinnen. Vielmehr geht es darum, manche Position der Opposition zu umarmen, sich zumindest auf sie zuzubewegen. Die AfD schwächt man nicht, indem man demonstrativ das Gegenteil ihrer mitunter bizarren Forderungen umsetzt, sondern indem man die Nöte ernst nimmt, die sie so stark werden ließen.

Das kann man alles schwierig finden. Aber dann hat man in einer Bundesregierung bald nichts mehr verloren.