Immer mehr Schüler klagen in Zeiten von G8 und Ganztagsschule über Stress und Überforderung. Die Serie wirft den Blick zurück. Erinnerungen an eine Schulzeit in den 80er-Jahren zwischen Wende und Weltuntergang.

Ich bin ein Kind des Waldsterbens, der Nachrüstung, der Aids-Katastrophe. Wir sind die Generation Apokalypse, unser Alltag war der Untergang. Was für eine wunderschöne Zeit.

Als die Achtzigerjahre begannen, neigten sich die fetten Jahre dem Ende entgegen, Deutschland wurde auf Diät gesetzt. Götterdämmerung im Wirtschaftswunderland. Die Zeit der Vollbeschäftigung war schlagartig vorbei, plötzlich mehrten sich die Krisenzeichen: eine fußkranke Wirtschaft, eine galoppierende Staatsverschuldung, eine taumelnde Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt. Und eine Gesellschaft, in der das Virus Angst grassierte.

An allen Ecken und Enden lauerte der Weltuntergang. Die Nachrüstung mit Pershing II und Cruise Missiles war für uns die Ouvertüre für den atomaren Knall, sollte dieser wider Erwarten ausbleiben, würde uns stattdessen Atomkraft, Waldsterben oder Umweltgifte dahinraffen. Wir verschlangen die Klassiker von Horst Eberhard Richter „Alle redeten vom Frieden“ oder das „Überlebenslesebuch“, die wenig tröstliche Botschaften hatten, ergötzten uns an Fotomontagen im „Stern“ unter dem Titel „Deutschland ohne Wald“ und gruselten uns in „The day after“. Als ich 14 war, wusste ich nur: Wir würden alle sterben, vielleicht schon morgen oder übermorgen. Im Angesicht des erwarteten Todes waren wir gnadenlos lebenshungrig. Wir waren in der Pubertät und schräg drauf.

Noch schräger kamen allerdings so manche Lehrer an unserem Kleinstadtgymnasium in der niedersächsischen Provinz daher – sie wirkten wie Verstärker der Weltschmerzirrungen und Weltschmerzwirrungen der Pennäler. Sie sahen damals so aus, wie man sich heute einen strammen GEWler vorstellt. Sie waren noch betroffener als wir, hatten „Mut zur Angst“.

Man traf sich auf Friedensdemonstrationen, im Dritte-Welt-Laden und hatte die gleichen Themen. Als am 15. Dezember 1983 das Bundesverfassungsgericht die Volkszählung stoppte, unterbrach einer unserer Lehrer den Unterricht, um am Radio das Urteil mitzubekommen. Der Rest der Stunde verschwamm in Euphorie. Unsere Schülersprecherwahl 1984 drehte sich nicht um den Joghurt-Verkauf in der Pause, die verwarzte Raucherecke oder das Mobiliar im Fahrschüler-Raum, sondern um die ganz großen Fragen: Den atomaren Overkill und – in der gefühlten Gefährlichkeit ungefähr gleichauf – den Pfälzer Kanzler Helmut Kohl und seine „geistig moralische Wende“.

In diese politisierte Zeit waren wir 1983 als Siebtklässler aufs Gymnasium gewechselt – und kamen uns vor wie Baptistenschüler in der Herbertstraße. Von der Orientierungsstufe, deren Überflüssigkeit schon Zehnjährigen nicht verborgen geblieben war, waren wir ins schrille Leben geworfen worden. Und in ein anstrengendes. Denn neben dem Atomkrieg ging es auch darum, das erste Jahr schulisch zu überleben. Aller Revolutionsfolklore zum Trotz, ungeachtet der so liebenswürdigen wie langhaarigen Cordhosenträger im Lehrerzimmer, regierte an der Spitze des Gymnasiums der Geist einer „höheren Lehranstalt“.

Ein guter und großer Geist, promovierter Historiker, der allen drei siebten Klassen persönlich das Altertum näher brachte, sie mit den punischen und peloponnesischen Kriegen traktierte und bei mangelnder gymnasialer Reife mit der Note „Mangelhaft“ abstrafte. Eine 5 im Zeugnis war damals weder ein Verstoß gegen die Kinderrechtskonvention noch ein Fall für den Staatsanwalt, sondern allgemein akzeptierte Auslese. Am Ende des ersten Schuljahres hatte man die siebten Klassen mit zunächst knapp 30 Schülern auf gut 20 eingedampft. Die Realschule lag gleich nebenan, und für begriffsstutzige Besserverdiener gab es ja Privatschulen in Bremen. Der Anteil der Gymnasiasten verharrte damals bundesweit unter 30 Prozent.

Es wehte ein freier Geist an der Schule, der immer wieder an seine gymnasialen Grenzen stieß. Wir hatten einen Comic mit dem Spruch „Man muss nicht unbedingt dumm sein, um hier zu arbeiten, aber es erleichtert die Sache ungemein“ über die Tür geheftet. Das fand unsere Klassenlehrerin lustig und locker, unser Direktor hingegen empörend, ja „degoutant“, schließlich seien wir hier auf einem Gymnasium. Der Comic musste unverzüglich entfernt werden. Bei der Lektüre der Schülerzeitung, die wir ihm brav vor Andruck vorlegten, hätte er sich jedes Mal die Haare gerauft, wären sie nur ausreichend auf seinem Kopf gewachsen. Wir durften alles schreiben, mit einer Bedingung: Es musste fehlerfrei sein. Wer in der Oberstufe mehr als vier Fehler auf einer Seite hatte, wurde mit Punktabzug bestraft. Zum Ende des Jahrzehnts hatte die damalige CDU-Landesregierung unter Ernst Albrecht die verrücktesten Eskapaden der Bildungsreformer schon wieder zurückgenommen und bastelte an weiteren Verschärfungen. Ich hatte Glück und durfte 1989 mit Biologie und Gemeinschaftskunde, Deutsch und Religion in die Abiturprüfungen.

Zwei Themen zogen sich wie Wiedergänger durch die Schullaufbahn, in Mittel wie Oberstufe: der Faschismus und die Aufklärung. An Hitler und Weimarer Republik, Kant und Weimarer Klassik kam niemand vorbei – unerlässliches Rüstzeug für Deutsche. Und sonst? Noch heute kann ich im Schlaf Storm-Gedichte aufsagen, die ich als Strafarbeit lernen musste, die Sonatensatzform der Schicksalssymphonie heraushören und die Kopfrechentricks meines Mathematiklehrers anwenden.

Noch heute habe ich die Schritte meines Lateinlehrers im Ohr, der vor der Übersetzung eines Bandwurmsatzes mit Angst einflößendem Ablativus absolutus wie ein Feldheer die Reihen abschritt, um sich ein Opfer zu suchen. Wer nur für den Bruchteil einer Sekunde den Blick vom Buch löste, hatte verloren. Und dann waren da die vermeintlich lockeren Lehrer, in deren Unterricht ich erst Comics unter dem Tisch und später demonstrativ die „taz“ las, weil das „niveauvoller“ sei. Mit 25 Jahren Verspätung: Verzeihung.

Und über allem schwebte die große Politik, der kleine Weltuntergang. Als in Tschernobyl der Atomreaktor havarierte, saß ich kurz darauf im Direktorenzimmer und kündigte als Klassensprecher angesichts der Strahlenkatastrophe den Boykott aller Leibesübungen im Freien an – ich hasste Leichtathletik noch mehr als Kernenergie.

Meine Schultasche war ein Jute-Beutel mit dem Aufdruck „Südafrikas Zukunft ist schwarz“, ich hielt Referate über den Anarchisten Bakunin oder tippte Seminararbeiten über Joseph von Eichendorff als Vorkämpfer der Umweltbewegung auf graues Ökopapier. Dafür gab es politische Haltungsnoten.

Im Lehrerzimmer prallten zwei Welten aufeinander: altgediente Oberstudienräte und junge Wilde, Tiefschwarze und Buntalternative, Platon und Marx, Schubert und die Stones; wir waren zu jung, um zu verstehen, wie gut diese Mischung war. Eine Weltsicht wurde in den sieben Jahren gehörig auf den Kopf gestellt: dass die strengen Lehrer blöd und die lockeren Lehrer die guten sind. In der Oberstufe begann ich zu ahnen, dass es eher umgekehrt ist. Und dass Leistung gedeiht, wo man gefordert und gefördert wird.

Mein Religionslehrer in den abiturrelevanten Kursen kündigte allen Ernstes an, sein Grundkurs sei ein Leistungskurs – wer nicht zu Mehrarbeit bereit sei, solle lieber ein anderes Fach wählen. Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass der Kurs am Freitag zwischen 11.45 Uhr und 13.20 Uhr stattfand, wenn der freizeitorientierte Schüler längst über den Wochenendplanungen brüteten. Der Mann hielt Wort, wir lasen Nietzsche, Hegel, Feuerbach, William Golding. Die Note 1 war bei ihm eine Rarität, keine Massenware. An der Universität habe ich mir oft ein vergleichbares Niveau gewünscht. Spätestens dort spürt man, dass die „allgemeine Hochschulreife“ eine recht gemeine Sache ist: Einige Kommilitonen wären schon am gestrengen Griechischlehrer gescheitert, in einigen Seminaren wähnte ich mich wie im DFB-Pokal. Direkt neben mir trafen der FC Bayern München und der Eimsbüttler TV aufeinander.

Zum Abitur gehört nicht nur Können, sondern vor allem Glück. Das Glück, auf einer guten Schule lernen zu dürfen, das Glück, engagierte Lehrer zu haben und ein gesundes Umfeld.

Vermutlich habe ich Glück gehabt. Für uns war Schule immer mehr als die sechs Stunden von 8 Uhr bis 13.20 Uhr. Wir kamen früher und blieben länger, sehr zum Leidwesen unserer Mütter, die damals noch mit dem Essen zu Hause warteten. Wir wählten am Nachmittag so genannte AG, in denen Lehrer ehrenamtlich Sport oder Kulturangebote machten, und organisierten an Wochenenden unsere Schülerselbstvertretung. Wenn wir nicht im Unterricht saßen. Auch wenn jüngere Leser glauben, nun erzählt Opa vom Krieg: Alle 14 Tage war der Sonnabend Regelschultag, an dem die Leistungskurse stattfanden, damit der halbstarke Schlendrian nicht überbordet. Gottseidank wurde Restalkohol in der Oberstufe nicht gemessen.

Natürlich verklären sich Erinnerungen mit der Zeit, dafür bedarf es keiner Feuerzangenbowle. Vermutlich werden auch die heutigen Kämpfer gegen G9 einst sehnsuchtsvoll auf die Schulzeit blicken. Und doch bin ich froh, in Zeiten eines Übergangs mit einer Mischung aus Revolution und Restauration, mit langer Leine und klaren Grenzen, mit bildungsbürgerlichem Überbau und alternativen Graswurzeln groß geworden zu sein. Freiheit mussten wir erkämpfen, deshalb nahmen wir sie nicht als Selbstverständlichkeit hin, sondern genossen sie wie Schampus.

Auch auf die Gefahr hin, verbiesterten Bildungspolitikern auf den Schlips zu treten, es entscheidet nicht die Zahl der Stunden oder das Abarbeiten von Curricula, sondern die Lust am Lernen, der Spaß an der Schule.

Die vielleicht schönsten Stunden meiner Schulzeit waren so die Freistunden. Jeden Morgen sammelten wir uns vor dem Vertretungsplan neben dem Schwarzen Brett, aufgeregt wie Kinder vor der Weihnachtsbescherung. Dort waren fein säuberlich die Namen der kranken oder abwesenden Kollegen verzeichnet und wer den Unterricht übernehmen sollte. Im ungünstigen Fall drohte dann eine Überdosis Latein oder eine Prise Physik. Im günstigsten Fall stand ein bloßer Kreis dort – das Symbol für frei, der Schlüssel zum Glück. In diesen Stunden wurde die Schule vom Lernort zum Lebensraum – gemeinsam frönten wir dem Luxus der geschenkten Zeit für peinliche Streiche wie pubertäres Philosophieren, für Weltverbesserungsideen oder Weltuntergangsgesänge. Ich erinnere mich an eine besondere Freistundendebatte über das Schicksal, Schüler zu sein. Die Pfiffigen ahnten schon damals, dass dies eine glückliche Zeit ist; die Tumben führten ihre schlechte Laune spazieren.

Ich habe diese Stunden ohne Zwang geliebt. Vielleicht haben sie die eine oder andere Lücke im Periodensystem, dem Zitronensäurezyklus oder der Thronfolge des Heiligen Römischen Reiches hinterlassen, aber diese geschenkte Zeit hat mich zu einem glücklichen Schüler gemacht. Und das war vermutlich wichtiger als alles andere, gerade in Zeiten, in denen jeden Moment die Welt untergehen konnte.