Hamburg. Bisherige Prognosen für Hamburg pulverisiert? Krankenkassen und Medizinischer Dienst fordern, Pflegebedürftigen anders zu helfen.
Generation Z, Babyboomer, Rentner, Pflegebedürftige: Das Zahlenverhältnis zwischen diesen Gruppen ist ins Rutschen geraten. Immer weniger Junge im Job finanzieren eine steigende Zahl von Älteren, die bald in den Ruhestand gleiten oder dort schon sind und – naturgemäß – mehr medizinische Leistungen in Anspruch nehmen. Das haben Demografen alles vorausberechnet. Die Vorhersagen des Statistischen Bundesamtes sind für Hamburg jedoch an einer entscheidenden Stelle aus den Fugen geraten. Die Zahl der Anträge auf einen Pflegegrad stieg in den vergangenen Jahren erheblich höher als erwartet.
Nach Daten des Landesverbandes Nordwest der Betriebskrankenkassen (BKK), die dem Abendblatt vorliegen, wuchsen allein die Pflegebegutachtungen zwischen 2018 und 2023 im Mittel um 8,5 Prozent pro Jahr. Nicht jeder Antrag wird bewilligt, und einige der betagten Pflegebedürftigen werden sterben. Aber das von den Statistikern vorhergesagte jährliche Wachstum von gut einem Prozent an Pflegebedürftigen ist mit diesen Zahlen zu den tatsächlichen Anträgen pulverisiert.
Pflege in Hamburg: Überproportionales Wachstum der Patientenzahl
Wenn die alternde Gesellschaft allein kein Grund mehr für den drohende Pflegestadtstaat Hamburg ist, was ist es dann? „Der demografische Wandel allein reicht als Erklärung nicht aus. Vielmehr spielen soziale Faktoren eine wesentliche Rolle“, sagt Dirk Janssen, Vorstand im BKK-Landesverband Nordwest. Er ist überzeugt: „Sozialer Druck bringt Menschen immer früher in die Pflege. Die gestiegenen Inflationsraten und Krisen der letzten Jahre haben einen zusätzlichen Schub bei den Anträgen bewirkt.“
In Hamburg kommt hinzu, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen auf einem konstant hohen Niveau ist. Doch auch in Schleswig-Holstein, dessen Daten ebenfalls erhoben wurden, ist das Wachstum überproportional. Möglicherweise liegt es auch daran, dass das Verfahren, einen Pflegegrad zu beantragen, vergleichsweise leicht geworden ist. Nach einem Antrag erhält man einen Fragebogen vom Medizinischen Dienst (MD), den man auch per QR-Code digital abrufen und ausfüllen kann.
Die meisten Pflegebedürftigen werden zu Hause betreut
Anders als oft behauptet, sagt Martin Schünemann vom MD-Nord, gehe es weder Krankenkassen noch den Gutachtern darum, Anträge auf Pflegegrade möglichst kritisch zu sehen und mit Vorliebe abzulehnen. Am Ende, so Schünemann, erhalte jede Krankenkasse mit vielen Pflegebedürftigen finanzielle Ausgleiche aus dem Gesundheitsfonds. Janssen wie Schünemann betonen: Eine Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, das sei auch im Interesse der betroffenen Menschen.
In Hamburg leben nach Krankenkassenangaben (für das Jahr 2021) gut 90.000 Pflegebedürftige. Obwohl die Stadt vom Altersdurchschnitt her eines der „jüngsten“ Bundesländer ist und viele Junge herziehen, wird der Anteil zu Pflegender wachsen. Nach Vorhersagen des Statistischen Bundesamtes werden es 2035 dann 102.000 Pflegebedürftige sein, 2055 sogar 132.000.
Doch hier sind, gemessen an den realen Anträgen nach BKK-Zahlen, die jährlichen Steigerungen recht gering kalkuliert. 54 Prozent der aktuell Pflegebedürftigen in Hamburg haben den Pflegegrad 1 oder 2, also geringe bis erhebliche Einschränkungen der Selbstständigkeit. Pflegegrad 5 haben nur fünf Prozent. Die überwiegende Mehrheit wird zu Hause versorgt, durch Angehörige (46 Prozent) oder mit Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes (27 Prozent).
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Können Hausärzte bei Pflegegutachten helfen?
BKK und Medizinischer Dienst sehen eine Chance, den drohenden Pflegekollaps etwas abzumildern. Häufig könnten Reha-Maßnahmen nach einem Unfall oder einem Schlaganfall dazu beitragen, dass eine kurzzeitige Pflegebedürftigkeit auslaufe. Jeder Hausbesuch des MD koste Zeit und bürokratischen Aufwand. Generell müssten die Begutachtungsverfahren schlanker werden. Jeder Gutachter des Medizinischen Dienstes, sagt der Arzt Schünemann, ist ein Experte weniger für die Versorgung.
Janssen und Schünemann plädieren dafür, dass Fallmanager sich die potenziell Pflegebedürftigen anschauen – und Ärzte der Patienten eine neue Rolle bekommen. Viele Antragskandidaten müssten einfach nur besser beraten werden. Janssen sagt: „Es braucht jemanden, der über den Tellerrand schaut und nicht nur jeweils zu Wohngeld, Pflegeversicherung, Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung berät, sondern die Menschen mit ihren Bedarfen ganzheitlich im Blick hat. Denkbar ist auch eine Steuerung über die Hausärzte.“ Die ohnehin mit Kranken- und Lebensgeschichte der Patienten vertrauten Hausärzte sollten bei den Pflegegutachten eine stärkere Rolle bekommen.