Hamburg. Zum Tag der Kriminalitätsopfer erzählt ein Mann, wie ein Angriff sein Leben veränderte. Warum er trotz allem wieder so handeln würde.

Es war wie ein Reflex. Da war ein Mann in großer Not, und er wollte helfen. Also lief Ulrich Petersen (Name geändert) hin zu den Kerlen, die auf einen älteren Herrn eintraten. Er ging dazwischen und sorgte dafür, dass die Gewalttäter von ihrem Opfer abließen. Damit war die Sache für ihn erledigt. Der Hamburger ahnte nicht, dass sich die Wut der Schläger nunmehr gegen ihn richtete. Der Angriff traf ihn unvorbereitet – und mit voller Wucht.

Seit diesem Tag im April 2008 ist für Ulrich Petersen nichts mehr, wie es war. Er erlitt schwerste Verletzungen im Gesicht, Frakturen, die mit Titanplatten und Schrauben gerichtet werden mussten, die zahlreiche Krankenhausaufenthalte erforderlich machten. Es sind Knochenbrüche, die ihm noch über Jahre Schmerzen bereiteten. Doch vor allem sind da die Narben auf seiner Seele.

Opferschutz Hamburg: Mutiger Mann hilft einem Opfer und wird selbst attackiert

„Man lebt nicht mehr so leicht wie vorher“, sagt der 67-Jährige heute. „Das Leben hat sich von Grund auf verändert.“ Er und seine Frau, die früher gern Konzerte und andere Veranstaltungen besucht haben, meiden seit dem Angriff jedes Gedränge und enge Räume. Auch das Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder ein Restaurantbesuch am Abend sind für den Hamburger und seine Familie tabu. „Man hat sofort den Gedanken, es könnte wieder was passieren.“

Das Plakat des Opferschutzverbands Weißer Ring zum Tag der Kriminalitätsopfer.
Das Plakat des Opferschutzverbands Weißer Ring zum Tag der Kriminalitätsopfer. © Weißer Ring | Weißer Ring

Ulrich Petersen wurde zum Opfer. Und damit ist er einer jener Menschen, von denen Kristina Erichsen-Kruse, stellvertretende Hamburg-Vorsitzende vom Weißen Ring, sagt: „Opfer haben lebenslänglich.“ Denn die Folgen einer Tat beeinträchtigen einen Menschen, bremsen ihn aus, für Monate, über Jahre. In vielen Fällen für immer. All diesen Kindern, Frauen und Männern ist der „Tag der Kriminalitätsopfer“ gewidmet, der in diesem Jahr unter dem Motto steht: „Den Opfern eine Stimme geben: Jeder Mensch ist wichtig.“

Weißer Ring: „Den Opfern eine Stimme geben: Jeder Mensch ist wichtig“

Das ist auch das Motto des diesjährigen Gottesdienstes, zu dem die Opferschutzorganisation Weißer Ring sowie die Evangelisch-Lutherische Kirche am 22. März einladen. Mit dem „Tag der Kriminalitätsopfer“ und dem Gottesdienst sollen Zeichen der Solidarität mit Gewaltopfern gesetzt werden.

So wie Ulrich Petersen, der seinerzeit von einem Weißer-Ring-Mitarbeiter bereits im Krankenhaus besucht wurde, dem Betreuung und Begleitung angeboten wurde, dem der Weiße Ring zu einem Rechtsanwalt verholfen und die Kosten übernommen hat. Außerdem hat der ehrenamtliche Opferschützer des Weißen Ringes den Hamburger bei Behördengängen unterstützt und ihn zum Gerichtsverfahren begleitet.

Attackierter Helfer sagt: „Der Mann lag schon am Boden. Ich bin sofort hin“

Die Hilfe durch den Weißen Ring sei „damals sehr wichtig“ für ihn gewesen, erzählt Ulrich Petersen. Obwohl der Tag, an dem er angegriffen und schwer verletzt wurde, mittlerweile 16 Jahre zurückliegt, sind die Erinnerungen tief in sein Gedächtnis eingegraben. Er war auf dem Rückweg von einer großen Sportveranstaltung nach Hause, als er am U-Bahnhof Mümmelmannsberg Zeuge einer Gewalttat wurde. „Zwei Typen prügelten und traten auf einen älteren Herren ein. Er lag schon am Boden“, erzählt der 67-Jährige. „Ich bin sofort hin. Das ist die Zivilcourage, die man an den Tag legt.“

Ulrich Petersen ging dazwischen, brachte die Täter dazu, von ihrem Opfer abzulassen. Der Hamburger sah, wie der Mann sich aufrappelte, zum Bahnsteig lief und in einen gerade einfahrenden Zug einstieg. Dann wandte sich Ulrich Petersen selber zum Gehen. „Für mich war die Sache vorbei.“ Deshalb bekam er nicht mit, was sich hinter seinem Rücken ereignete: Einer der Schläger griff einen schweren Stein, sprintete an Ulrich Petersen vorbei, drehte sich blitzschnell um und rammte dem Hamburger den Stein mitten ins Gesicht. „Wie ein Handballer beim Siebenmeter“, beschrieb später eine Zeugin die Wucht, die der Täter in seinen Wurf legte.

Opferschutz Hamburg: Schläger rammte dem Helfer einen Stein ins Gesicht

Von diesem Moment an sind die Ereignisse für Ulrich Petersen in Bruchstücke zerschnitten. Er weiß, dass er noch ein paar Schritte ging, dabei „nichts mehr wahrnahm“, dann zusammenbrach und sein Bewusstsein verlor. Er kam ins Krankenhaus, erst in eine nahe gelegene Klinik, wurde dann ins Universitätsklinikum Eppendorf verlegt, in die Gesichtschirurgie. Dort blieb er gut zwei Wochen; es war der erste von mehreren Krankenhausaufenthalten.

Denn die Attacke mit dem Stein hatte etliche Frakturen im Gesicht verursacht. Jochbein, Nasenbein, Orbitaboden, alles kaputt. „Fünf Titanplatten wurden in meinem Gesicht eingesetzt, alles mit 21 Schrauben fixiert“, erzählt Ulrich Petersen. „Dabei hatte ich wohl noch Glück, hat mir der zuständige Professor erzählt. Zwei Zentimeter weiter, und der Stein hätte mich an der Schläfe getroffen, dann wäre ich wahrscheinlich tot gewesen.“

Er half einem Verletzten, wurde dann selber attackiert. Ulrich Petersens Gesichtsknochen wurden mit Titanplatten und Schrauben gerichtet.
Er half einem Verletzten, wurde dann selber attackiert. Ulrich Petersens Gesichtsknochen wurden mit Titanplatten und Schrauben gerichtet. © privat | Privat

Und noch eine Warnung kam von den behandelnden Ärzten: „Sie sagten: ,Das Augenlicht werden wir retten können, aber Sie werden Doppelbilder sehen.‘“, erinnert sich der Hamburger. „Ich hatte aber das Glück, dass ich keine Doppelbilder sah.“ Die Titanplatten und Schrauben, die das Gesicht von Ulrich Petersen zusammenhielten, konnten ein halbes Jahr nach dem Übergriff entfernt werden. Schon vorher hatte er wieder angefangen zu arbeiten, „weil ich das wollte. Der Job hat mich abgelenkt.“ So fuhr Ulrich Petersen nach einer Krankenzeit von etwa zwei Monaten wieder Lkw für ein Recyclingunternehmen. „Mein Chef war unglaublich verständnisvoll. Ich konnte mir die Arbeit recht flexibel einteilen.“ Insgesamt war es aber „ein langer Genesungsprozess“.

Helfer wird zum Opfer: Es blieb die Sorge, es könnte wieder etwas passieren

Mehrere Einschränkungen blieben. So ging Ulrich Petersen etwa zwei Jahre lang nur mit Sonnenbrille aus dem Haus, aus optischen Gründen und um sein Auge vor dem Licht zu schützen, das ihn blendete. „Die Sonnenbrille wurde meine ständige Begleiterin.“ Ebenso wie die Sorge, es könnte wieder „etwas passieren“, also erneut jemand ihn angreifen und verletzen. „Es müsste nur jemand leicht zuschlagen, und alles wäre wieder kaputt“, sagt Ulrich Petersen und zeigt auf sein Gesicht. Deshalb ist er seitdem abends nie wieder ausgegangen, um größere Menschenansammlungen zu meiden, ist nie wieder U- oder S-Bahn gefahren, auch nicht mit dem Bus. „Wir waren nicht einmal mehr abends essen“, sagt der 67-Jährige über sich und seine Frau. „Im Hinterkopf war immer die Angst.“

Und bis heute ärgert sich Ulrich Petersen über den Ausgang des Gerichtsprozesses, in dem er Opfer und Zeuge war. Der Mann, der ihm den Stein ins Gesicht gerammt hatte, ein mehrfach vorbestrafter Hamburger, wurde gefasst, nachdem Zeugen ihn beschrieben hatten. Dieser Mann sei vor Gericht zu zweieinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt worden, erzählt der 67-Jährige. „Außerdem sollte er 5000 Euro Schmerzensgeld zahlen. Davon habe ich bis heute nichts bekommen.“

Opferschutz: Bis heute ist beim mutigen Helfer von 5000 Euro Schmerzensgeld nichts angekommen

„Das Zusprechen von Schmerzensgeld ist unzureichend geregelt“, moniert Opferschützerin Kristina Erichsen-Kruse vom Weißen Ring. „Denn die Betroffenen müssen bei dem Schuldtitel, der 30 Jahre lang gilt, dafür sorgen, dass Fristen nicht verstreichen. Die Betroffenen müssen selber zusehen, wie sie zu ihrem Geld kommen. Das ist eine Zumutung.“

Aber auch ohne diese leidigen Erfordernisse wird Ulrich Petersen immer wieder an den Moment, der sein Leben veränderte, erinnert. Da sind weiterhin Schmerzen, nicht mehr so schlimm wie früher, aber sie sind noch spürbar. Ebenso, wie er in seinem Gesicht noch Veränderungen bemerkt und fühlt, dass an einigen Stellen eine gewisse Taubheit besteht. „Aber damit kann ich leben“, versichert Ulrich Petersen. „Man muss auch damit leben können.“ Er würde in Situationen, in denen jemand Hilfe braucht, „immer wieder Zivilcourage zeigen“, betont der Hamburger. „Ich würde nie wegschauen, wenn etwas passiert. Ich würde mein Handy nehmen, die Polizei rufen, beobachten, wo Täter hinrennen. Aber selber einschreiten würde ich nicht mehr. Der Preis war sehr hoch. Vergessen werde ich den Übergriff nie. Es bleibt immer im Kopf.“

Die Erkenntnis, dass „Opfer lebenslänglich haben, gilt auch für Menschen, die aufgrund von Zivilcourage zu Schaden gekommen sind und sehr lange mit Schmerzen leben und ihrem Recht hinterherlaufen müssen“, betont Kristina Erichsen-Kruse. Im vergangenen Jahr hat der Weiße Ring Hamburg insgesamt 944 Opfern aus 864 Fällen geholfen. Davon waren 149 sogenannte Beziehungstaten. Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Anzahl der Fälle um 149, also um 20,8 Prozent.

Der Weiße Ring zählt immer mehr Fälle: Hilfe für Opfer notwendiger denn je

Hilfe für die Opfer ist also notwendiger denn je. Und so kommt auch dem Motto des diesjährigen „Tages der Kriminalitätsopfer“ mit „Jeder Mensch ist wichtig“ eine ganz besondere Bedeutung zu. Seit 1991 macht der Weiße Ring mit diesem besonderen Tag auf Menschen aufmerksam, die durch Kriminalität und Gewalt geschädigt wurden.

Zu dem Gottesdienst am 22. März 2024 laden Probst Dr. Martin Vetter, die Hamburger Landesvorsitzende des Weißen Ringes, Monika Schorn, und die Stellvertretende Vorsitzende Erichsen-Kruse ein. Mitwirkende sind unter anderem: Hamburgs Polizeipräsident Falk Schnabel, Bundestags-Vizepräsidentin Aydan Özoguz sowie Sabine Tesche vom Hamburger Abendblatt. Beginn des Gottesdienstes ist um 18 Uhr, Hauptkirche St. Jacobi, Steinstraße/Jakobikirchhof, 20095 Hamburg.

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Einen Tag vorher, also am 21. März, erscheint das Hamburger-Abendblatt-Kirchenmagazin „Himmel & Elbe“. Darin wird es ein großes Interview zum Thema Vergebung mit dem Ehepaar Astrid und Niels Hellwege geben. Die Hamburger haben nach dem gewaltsamen Tod ihrer Tochter Anna, die 2006 umgebracht wurde, den Gottesdienst gemeinsam mit dem Weißen Ring ins Leben gerufen.