Hamburg. Zu wenig Lehrer und zu viele Schüler mit psychischen Problemen. Unterricht bleibt auf der Strecke. Zehntausende von Stunden vergeudet.
Es gibt da diese Tage, da zweifeln sie an dem System. An einem System, von dem sie selbst Teil sind, aber dessen Mechanismen sie immer öfter infrage stellen. „Unser Schulsystem befindet sich am Limit“, sagten drei Hamburger Lehrer und Lehrerinnen, mit denen das Abendblatt gesprochen hat.
Sorge bereitet den Pädagogen vor allem die zunehmende Zahl von Schülern mit psychischen Problemen. Mit Depressionen, Essstörungen, einem Trauma – und sogar Selbstmordgedanken. „Wenn dir ein Kind in der zweiten Klasse sagt, dass es sich am liebsten umbringen würde, dann brauchst du als Lehrer Hilfestellung, wie du damit umgehst. Doch genau diese Hilfe fehlt überall“, sagt eine Lehrerin. Es gebe zu wenig Psychologen, Sonderpädagogen und Beratungslehrer. „Da bleibt der Unterricht oft auf der Strecke!“, so das Fazit.
Lehrer am Limit: Drei Pädagogen kritisieren das Schulsystem
Die drei arbeiten in unterschiedlichen Schulen, in verschiedenen Stadtteilen. Doch der Tenor ist der gleiche: Viele Lehrer arbeiten an der Belastungsgrenze, ohne Quereinsteiger würde das System vermutlich kollabieren. Sie alle sind Lehrer aus Leidenschaft, brennen für ihren Job. Doch manchmal, sagt eine von ihnen, habe sie das Gefühl, ausgebrannt zu sein.
Damit meint sie nicht die fachliche Arbeit. Nicht den Unterricht, nicht die Vorbereitung von Schulstunden oder die Korrektur von Klassenarbeiten. Damit meint sie all das, was niemand sieht, niemand vermutet. Was in keiner Stellenbeschreibung steht und in keinem Studium gelehrt wird. Die Gespräche mit Psychologen, Ärzten oder Therapeuten zum Beispiel. Beurteilungen und Berichte, die sie schreiben müssen, damit die Kinder Anspruch auf Therapien haben oder zur Kur fahren können. Anträge, die ausgefüllt werden müssen. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich keine Lehrerin bin, sondern Sekretärin.“
Vermutlich sei das auch der Grund, warum viele Lehrer keine volle Stelle haben, so die Vermutung. „Ich arbeite jetzt schon mit einer Teilzeitstelle voll“, sagt eine der Lehrerinnen. Sie hat von Kollegen gehört, die auf 50 oder 60 Stunden in der Woche kommen.
Teilzeitquote bei Lehrkräften ist auf dem höchsten Stand seit Jahren. Hamburg ist Spitzenreiter
Sie ist kein Einzelfall: Die Teilzeitquote bei Lehrkräften ist auf dem höchsten Stand der vergangenen zehn Jahre. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis), waren im Schuljahr 2022/2023 rund 724.800 Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland tätig – davon 42,3 Prozent in Teilzeit. Damit lag die Teilzeitquote bei Lehrkräften etwas höher als im Schuljahr zuvor (40,6 %). Besonders Frauen reduzieren häufig ihre Arbeitszeit: Im Schuljahr 2022/2023 war die Teilzeitquote bei Lehrerinnen mit 49,9 Prozent mehr als doppelt so hoch wie bei Lehrern (21,8 %).
Hamburg hat bundesweit die höchste Teilzeitquote unter Lehrerinnen und Lehrern. So arbeitete im Schuljahr 2022/23 mehr als die Hälfte (54,4 Prozent) aller Lehrkräfte an den allgemeinbildenden Schulen nur Teilzeit. Bei einer Befragung für das Deutsche Schulbarometer gaben zwei Drittel der Lehrkräfte in Teilzeit an, dass sie unter bestimmten Bedingungen bereit wären, ihre Arbeitszeit aufzustocken – wenn es beispielsweise Entlastung bei der außerunterrichtlichen Arbeit gebe.
„Ich kann den Job nicht mehr so gut machen, wie ich möchte.“
„Wenn du den Anspruch hast, den Job gut zu machen, dann geht das nicht mit einer vollen Stelle. Sonst arbeitest du jeden Tag zehn oder zwölf Stunden“, so das Fazit. Trotzdem: Auch wenn jeder von ihnen nicht voll arbeitet, merken sie immer öfter, dass sie an ihre Grenzen stoßen. Dass es eine große Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit gibt. „Auch wenn ich möchte – ich kann den Job nicht mehr so gut machen, wie ich möchte.“ Und das führe zu einer großen Frustration. Nicht nur bei ihnen, sondern auch bei den Schülern. Das merke man.
Sie arbeiten an „ganz normalen Schulen“, möchte man denken. Doch der Alltag ist nicht mehr normal, nicht mehr wie früher. Weil sich die Schüler in den vergangenen Jahren verändert haben. „Früher hatte man in jeder Klasse zwei oder drei Kinder, die aus dem Raster gefallen sind und auffällig waren. Entweder, weil sie Lernschwierigkeiten wie eine Lese-Rechtschreib-Schwäche hatten oder ein Aufmerksamkeitsdefizit“, sagt die Lehrerin und erklärt, wie es jetzt ist: „Heute hat sich das Verhältnis umgedreht. Heute bin ich froh, wenn ich in einer Klasse zwei oder drei Kinder ohne Probleme habe!“ Manchmal sei sie selbst erschüttert, was die Kinder schon mit sich rumschleppten. „In jeder Klasse gibt es Kinder mit Depressionen, Traumata, Essstörungen, Lernschwierigkeiten oder Selbstmordgedanken.“
Corona war verheerend für Kinder: Sie haben nicht gelernt, mit Konflikten umzugehen
Es zählt mittlerweile zu den gesicherten Erkenntnissen aus der Corona-Pandemie, dass Schülerinnen und Schüler nicht zuletzt aufgrund der langen Phasen der Schulschließungen einen erhöhten psychologischen Beratungs- und Unterstützungsbedarf haben.
„Corona war verheerend für Kinder, die damals in der ersten oder zweiten Klasse waren. Sie haben nicht gelernt, mit Konflikten umzugehen, und haben bis heute Lernrückstände beim Lesen, Schreiben und Rechnen“, so das Fazit einer Lehrerin. Wenn sie von ihren Schülern spricht, sagt sie oft meine Kinder. Ihre Schüler sind ihre Kinder. Als der Lockdown war, hat sie einige von ihnen jeden Abend anrufen müssen, um ihnen „Gute Nacht“ zu sagen. Um ihnen ihre Ängste zu nehmen, um sie zu trösten.
Auch nach all den Jahren im Job – jeder von ihnen liebt die Arbeit mit den Kindern, die Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit. „Es ist total erfüllend, Kinder auf ihrem Weg ins Leben zu begleiten“, sagt einer der Pädagogen. „Aber die mangelnde Wertschätzung und die schlechte Personalführung frustrieren total.“
Wenn Lehrer zu Geschäftsführern und Personalchefs werden müssen
Ein Kritikpunkt: „Wenn in der freien Wirtschaft eine Führungsposition besetzt werden muss, sucht man dafür gezielt den besten Bewerber aus. Wenn in der Schule ein neuer Leiter benötigt wird, nimmt man den Erstbesten, den man bekommt, weil niemand den Job machen will.“
Er weiß, dass das hart klingt. Trotzdem, oder gerade deswegen: Es sei wichtig, das in aller Deutlichkeit zu sagen. „Die meisten Lehrer haben den Job gewählt, weil sie mit Kindern arbeiten und unterrichten wollen – und nicht, weil sei einen Betrieb führen und Personalverantwortung übernehmen möchten.“
Doch genau das passiere in dem Moment, wo ein Lehrer den Schulleiterposten übernehme. Er werde zu einer Art Geschäftsführer und Personalchef. „Und dafür sind wir nicht ausgebildet worden“, sagt der Lehrer. Die Folge seien mangelnde Führungskompetenz, die zu einer immer größeren Unzufriedenheit bei den Mitarbeitern führe.
Schulen in sozialen Brennpunkten haben kaum Bewerber und sind chronisch unterbesetzt
„Wir können an dem Lehrermangel nichts ändern. Daher müssen wir doch noch mehr auf die Lehrer gucken, die wir haben, und alles für ein gutes Arbeitsklima tun“, sagt er. Doch das Gegenteil sei der Fall: „Man hat das Gefühl, dass viele Entscheidungen nicht im Hinblick auf die Mitarbeiter getroffen werden – sondern im Hinblick auf die Behörde.“ Für ihn ist es nicht verwunderlich, dass so viele Lehrer die Stundenzahl reduzieren oder ganz aufhören – und sogar junge Lehrer total unzufrieden sind.
Doch das grundlegende Problem sei nicht das Personalmanagement an den Schulen, sondern die Personalpolitik in Hamburg. „In Hamburg sind die Schulen selbst dafür verantwortlich, Personal zu finden.“ Das führe jedoch dazu, dass Schulen in sozialen Brennpunkten kaum Bewerber haben und chronisch unterbesetzt seien – während Schulen mit einem besseren Sozialindex mehr Bewerber als Stellen haben. Er weiß, wovon er spricht.
Der Sozialindex beschreibt die sozio-ökonomische Zusammensetzung der Schülerschaft an Schulen auf einer Skala von 1 bis 6. Dabei steht eine 1 für Schulen, die eher Kinder aus schwierigen sozio-ökonomischen Verhältnissen beschulen, und eine 6 für Schulen, die Schülerinnen und Schüler aus eher privilegierten sozio-ökonomischen Verhältnissen beschulen.
„Wir konferieren uns zu Tode“: Zehntausende Lehrerstunden werden verplempert
„Dabei ist dieses System total absurd! Wenn eine Schule bereits eine 95 Prozent der Lehrerstellen besetzt hat, eine andere aber nur 85 Prozent – dann sollte doch lieber die mit 85 Prozent neue Lehrer bekommen und nicht die mit 95 Prozent.“ Bundesweit werden laut Studien im Jahr 2025 rund 25.000 Lehrkräfte fehlen, 2030 sollen es bereits 31.000 sein.
Ohne Quer- und Seiteneinsteiger, da sind sich die drei Lehrer einig, stehe das System vor dem Kollaps. Schon jetzt seien sie auf Studenten angewiesen, die Lehraufträge übernehmen. „Eigentlich sollen die Studenten nur als Zweitbesetzung einspringen – so die Theorie. Doch wenn die Erstbesetzung krank ist, steht ein Student plötzlich alleine da und muss unterrichten. Wenn das dann auch noch in einer schwierigen Klasse ist, sind die Zustände unzumutbar“, so die Erfahrung des Pädagogen.
Umso unverständlicher sei es, so die Kritik der Kollegen, dass unnötig viel Zeit in Konferenzen verplempert werde. „Wir konferieren uns zu Tode“, sagt einer von ihnen. Ständig müssten die Lehrpläne angepasst und schulinterne Curricula entwickelt werden. „Zehntausende bezahlter Lehrerstunden gehen dafür drauf, dass Lehrer der gleichen Klassenstufe für das gleiche Unterrichtsfach neue Pläne entwickeln.“ Auch wenn das damit begründet werde, dass jede Schule unterschiedlich sei – bei den Pädagogen sorgt das dennoch für Frust.
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An der Wirklichkeit vorbei: Plattdeutsch für Kinder, die kaum deutsch sprechen
Vor allem, weil die Bildungspläne oft an der Wirklichkeit vor Ort vorbeigingen. Ein Beispiel: „Natürlich ist Plattdeutsch eine tolle Sprache, die wir erhalten müssen. Aber wenn wir Platt an einer Schule lehren müssen, in der Deutsch für die meisten Kinder eine Fremdsprache ist, mit der viele von ihnen Schwierigkeiten haben – dann ist das vollkommen unsinnig und hat nichts mit der Lebenswirklichkeit der Kinder zu tun“, so die Kritik einer Lehrerin.
Was sie dennoch antreibt, jeden Tag neu: die Kinder. „Die Kinder selber, die alle von Natur neugierig sind und Spaß am Lernen haben. Solange ich diesen Kindern so einen Raum zum Lernen und Leben kreieren kann, glaube ich an das System Schule und mache weiter – allen Widrigkeiten zum Trotz.“