Hamburg. Europa-Spitzenkandidatin zu Gast in Hamburg. Während emotionaler Rede versammeln sich vor dem Rathaus Demonstranten – gegen die SPD.
Ein valides Zeichen für den Beginn der Wahlkampfzeit ist es, wenn Journalisten anfangen, die Sekunden des Applauses zu zählen. Nun denn, 35 Sekunden waren es am Sonntagvormittag, als Katarina Barley, die Europa-Spitzenkandidatin der SPD, den Neujahrsempfang ihrer Hamburger Parteigenossinnen und -genossen im Rathaus besuchte – und ihre Rede dabei nicht nur aufgrund des anschließenden, langen und vor allem lautstarken Klatschens zu gefallen wusste.
Denn vor dem 35-Sekunden-Applaus konnte der Ehrengast des traditionellen Empfangs im Festsaal des Rathauses mit rund 1100 Gästen vor allem durch den Inhalt ihrer Rede punkten. Dies war umso bemerkenswerter, als Barley direkt zu Beginn verriet, dass sie zwar eine lange Europa-Rede im Hinblick auf die Wahlen am 9. Juni vorbereitet hatte, sich aber angesichts der Ereignisse in den vergangenen Wochen spontan für ein anderes Thema entschieden habe.
SPD Hamburg: Katarina Barley warnt vor Faschisten – Demo gegen Partei am Rathaus
„Der Kampf gegen rechts eint gerade die Demokratinnen und Demokraten in Deutschland. Wir brauchen dieses Signal in Europa. Denn im Europäischen Rat sitzen bereits konservative Regierungen, die rechtsextreme Parteien tolerieren und gemeinsam mit ihnen regieren“, sagte die Vizepräsidentin des Europaparlaments, die in ihrer Rede auch sehr persönlich wurde.
Sie (deutsche Mutter, englischer Vater) und ihr Ehemann (halb Spanier, halb Niederländer) hätten sich bei einem Erasmus-Austausch in Frankreich kennen- und lieben gelernt – „und daraus sind zwei Erasmusbabys entstanden“, die heute über 20 Jahre alt seien. Doch genau diese Art des Zusammenlebens verachte und lehne die AfD ab.
Potsdamer Treffen: „So hat es mal begonnen“, sagt Barley
„Mir gehen diese vielen Menschen, diese Hunderttausende, die gerade für die Demokratie auf unsere Straßen gehen, sehr nahe“, sagte Barley, die schnell den Bogen zu den „wohldosierten Grausamkeiten der AfD“ und der Berichterstattung über das Geheimtreffen von Potsdam spannte.
„Die AfD ist aufgeflogen“, sagt sie. „Uns alle hat das schockiert, obwohl wir es doch alle wussten“, sagte die Politikerin, die im Hinblick auf die mutmaßlich in Potsdam besprochenen Deportationspläne die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer zitierte: „So hat es mal begonnen.“
Vorwurf an die AfD: wollen entscheiden, wer deutsch ist
An dieser Stele wurde Barley sehr deutlich – und wiederholte noch einmal: „Genauso hat es doch schon mal begonnen: dass es eine kleine Gruppe von Menschen gibt, die sich für etwas Besseres halten. Und die dann selbst definieren wollen, wer deutsch ist und wer nicht.“
Barley warnte vor Neofaschisten wie Björn Höcke, aber auch vor Faschisten in Skandinavien, rechten Regierungen in Europa wie in den vergangenen acht Jahren in Polen, vor Viktor Orban in Ungarn und vor Donald Trump in den USA. Sie sparte aber auch nicht mit Kritik an ihren eigenen Regierungskollegen.
Fundamentalkritik an Christian Lindner: „Das ist schäbig“
„Es macht mich wahnsinnig, wenn sich ein Minister vor protestierende Bauern stellt und denen sagt: ,Ich verstehe euch. Ich habe das zwar mitbeschlossen, aber ihr seid ja die Fleißigen. Das Problem sind die Bürgergeldempfänger und die Ausländer.‘“ Gemeint war FDP-Finanzminister Christian Lindner, bei dem Barley sehr deutlich wurde: „Das ist schäbig, das spaltet die Gesellschaft.“
Wie sehr diese Gesellschaft schon längst gespalten ist, konnte man am Sonntagvormittag auch direkt vor dem Rathaus beobachten. Auf dem Rathausmarkt hatte ein linkes Bündnis (#WirSindDieBrandmauer) zu einer Kundgebung gegen die SPD und die anderen Ampel-Parteien aufgerufen, weil diese sich ihrer Meinung nach durch die AfD immer mehr nach rechts trieben.
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Nach Veranstalterangaben waren 350 Demonstranten gekommen, wobei ein Großteil der Protestler die Kundgebung missbrauchte, um mit mehr als einem Dutzend Palästinaflaggen gegen Israel zu demonstrieren. „Nur Rassisten supporten Genozid“, stand beispielsweise auf einem Plakat.
„Es ist schön, dass mehr als 100.000 Hamburger gegen die AfD auf die Straße gehen. Aber alles andere als schön ist, dass die etablierten Parteien aus Angst vor der AfD immer rechtere Politik machen“, sagte Mitorganisator Thomas.
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Zu den israelfeindlichen Plakaten wollte er sich nicht äußern. „Ich bin grundsätzlich für Menschenrechte – natürlich auch für Palästinenser und Israelis.“
Zumindest in dieser Sache dürften die Demonstranten vor dem Rathaus und die SPD-Politiker im Rathaus einer Meinung sein.