Hamburg. Der Fotograf Tim Oehler hat zwischen 2021 und 2023 Israel und des Westjordanland bereist. Er zeigt Bilder der Schönheit und des Hasses.

Am Anfang war die Idee. Der Hamburger Fotograf Tim Oehler wollte schon zur Jahrtausendwende das Heilige Land bereisen – doch dann brach die Zweite Intifada aus und seine schwangere Frau bat ihn, den Wunsch zurückzustellen. Inspiriert von Colum McCanns Meisterwerk „Apeirogon“, das den Nahostkonflikt entlang des Lebens eines Palästinensers und eines Israelis beschreibt, flog er im November 2021 erstmals nach Israel und dem Westjordanland. Seine Idee war, Porträts von Menschen aus beiden Teilen gegenüberzustellen.

Gut zwei Jahre, drei Reisen und Tausende Fotos später ist sein Buch frisch aus der Druckerei gekommen. Es heißt „The-Holy-Land.de“ und ist eine fotografische Mission, die von der Schönheit der Landschaft und der Aura der religiösen Stätten ebenso erzählt wie von der Ausweglosigkeit des Alltags und dem Hass in den Herzen.

Naher Osten: 5000 Kilometer reiste er durch das Heilige Land

Tim Oehler, von Hause aus Werber, ist kein Politiker. „Vielleicht bin ich naiv an die Sache herangegangen“, sagt der 51-Jährige, der in den 1990er-Jahren in Hamburg eine ­Ausbildung zum Fotografen absolviert. Mit offenem Visier an Kamera und im Kopf reiste er rund 5000 Kilometer durch das Heilige Land, an touristische Hotspots, traf Surfer in Tel Aviv, Bauern in Jericho, jüdische Aktivisten in Hebron, Experten der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah.

Der Felsendom in Jerusalem. Oehler zeigt auch die vielen religiösen Orte des Heiligen Landes.
Der Felsendom in Jerusalem. Oehler zeigt auch die vielen religiösen Orte des Heiligen Landes. © TIM OEHLER | TIM OEHLER

Er fuhr an Orte, die man vor allem aus den Nachrichten kennt: in die Flüchtlingslager von Ramallah, auf die Golanhöhen, an die Klagemauer in Jerusalem. Oehler zeigt Bilder, die eher selten in TV-Sendungen auftauchen, Bilder aus einem Alltag voller Willkür und Ausgrenzung: Die Fahrzeuge haben verschiedene Kennzeichen, damit man sofort ihre Halter erkennt: Die der Israeli sind gelb, die der Palästinenser weiß oder grün – Letztere dürfen viele Straßen nicht benutzen. Mauern, die meterhoch die Menschen trennen, schwer bewaffnete Sicherheitskräfte, militärische Kontrollpunkte. Und das frühere arabische Viertel von Haifa, das seit Jahrzehnten verfällt.

Ihn beschlich bei dem Besuch ein Ost-Berlin-Gefühl

Nachhaltigen Eindruck haben auf ihn die Flüchtlingslager gemacht, in denen die Nachkommen der Palästinenser leben, die 1948 zu Zehntausenden vertrieben wurden. „Ich war in Favelas in Brasilien und Slums in Mexiko – genau so sieht es nun im Jenin-Camp oder Aida aus.“ Ihrer alten Heimat trauern sie weiter nach: „Die Menschen sagen auch noch 75 Jahre später, dass sie beispielsweise aus Haifa stammen.“

Aus den früheren Zeltlagern von einst sind dicht besiedelte Städte hinter Mauern gewuchert. „Mich beschlich bei dem Besuch an vielen Orten ein Ost-Berlin-Gefühl. Die Menschen, die dort leben, sind staatlicher Willkür ausgeliefert, wenn sie aus ihren Siedlungen heraus müssen, etwa zur Arbeit in Israel“, sagt Oehler. Nach dem 7. Oktober – der blutigen Terrorattacke der Hamas, der 1200 Zivilisten in Israel zum Opfer fielen, sei alles noch schlimmer geworden.

Seine beabsichtigte Objektivität stieß bald an Grenzen

Viele seiner beeindruckenden Fotografien sind Weitwinkel-Aufnahmen, um das fragile Nebeneinander abzubilden. Aber das Nebeneinander ist inzwischen vor allem ein Gegeneinander. „Israelis und Palästinenser kommen privat nicht mehr in Kontakt, sie leben in zwei völlig verschiedenen Welten, komplett voneinander getrennt“, sagt der Hamburger. „Misstrauen allerorten.“

Seine Idee sei gewesen, eine absolut neutrale Bestandsaufnahme nach 75 Jahren zu geben. Aber weder die Texte noch die Bilder sind neutral. Das weiß auch Oehler. „In diesem Konflikt ist die Schieflage zu offensichtlich.“ Im Westjordanland geschehe jeden Tag Unrecht. „Nicht nur die palästinensischen Terroristen, auch die radikalen Siedler verhindern den Frieden“, sagt er. „Es gibt für die Palästinenser kein zusammenhängendes Territorium mehr. Deshalb glaubt auch niemand mehr an eine Zwei-Staaten-Lösung. Wie soll das gehen?“

Das Araberviertel von Haifa verfällt immer weiter.
Das Araberviertel von Haifa verfällt immer weiter. © TIM OEHLER | TIM OEHLER

Im Gespräch geißelt er die Terrorattacken der Hamas, er kritisiert aber zugleich das Vorgehen der radikalen Siedler und die Gewalt gegen Palästinenser. In Hebron im Westjordanland dürfen die Palästinenser die Haupt-Durchgangsstraße nicht mehr benutzen; Netze sind in Hebron aufgespannt, um die arabischen Bewohner unten vor den jüdischen Siedlern zu schützen, die über ihnen wohnen.

Eine Reise durch Israel und das Westjordanland ist stets eine Gratwanderung

„Man kann gegen die Hamas sein und trotzdem das Vorgehen Israels kritisieren.“ Oehler empört, dass die Diskussionskultur auch in Deutschland gelitten hat. Als es kalt war, trug er kürzlich eine Art Palästinensertuch, ein Geschenk eines Freundes aus dem Westjordanland. In einer Kneipe auf St. Pauli wurde ihm bedeutet: „Mit dem Dreckslappen bekommst du hier kein Bier.“

Die menschenverachtenden Terrorattacken vom 7. Oktober haben überall die Polarisierung befördert. „Ich war fassungslos, dass so etwas überhaupt passieren kann“, sagt Oehler, der wochenlang durch Israel und das Westjordanland gereist ist. „Überall sind Kameras, Militärs, Checkpoints – und trotzdem ist die Terrorattacke passiert.“

Für Tim Oehler ist „The-Holy-Land.de“ das dritte Buch. Während der Pandemie fotografierte er im Lockdown seine Heimatstadt Hamburg.  Foto: Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services
Für Tim Oehler ist „The-Holy-Land.de“ das dritte Buch. Während der Pandemie fotografierte er im Lockdown seine Heimatstadt Hamburg. Foto: Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services © FFS-HH | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Zwischen den Fotos des Alltags zeigt Oehler immer wieder Bilder der biblischen Orte: den See Genezareth, das Jordantal, Bethlehem – oder die beeindruckende Natur der Negev-Wüste. „Ich wollte immer den Sternenhimmel über Jericho, der ältesten Stadt der Welt, sehen. Alles, was wir haben, ist jetzt!“, sagt der Vater von zwei Kindern.

Tim Oehler: Sein Fotobuch über die Hamburger „Corona-Nights“ wurde ein großer Erfolg

Das Buch, in einer 1000er-Auflage gedruckt, ist ein Lebenstraum. So wie es auch die beiden Vorgänger waren. So hat Oehler in den ersten Wochen der Pandemie 2020 Hamburgs „Corona Nights“ fotografisch eingefangen, danach ein sehr sensibles Buch über Sex-Arbeiterinnen veröffentlicht. Beide wurden positiv besprochen, die Bilder in Ausstellungen gezeigt.

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Mit seinem neuesten Buch wird es Kritik geben, das weiß Tim Oehler. Aber er hat auch schon viel Zuspruch von Israelis bekommen. „Dieses Buch ist kein Schnellschuss. Ich arbeite seit 2021 daran.“ Fertig wurde das Buch im September, der Andruck kam am 10. Oktober in Hamburg an – drei Tage, nachdem die Terroristen ihre unsägliche Blutspur des Hasses durch Israel gezogen hatten. Inzwischen schaut man anders auf die Bilder. Vielleicht auch, weil sie eine nicht wahrgenommene Vorgeschichte der Eskalation erzählen?

Tim Oehler: „The-Holy-Land.de“, zweisprachig deutsch/englisch CW Nordwest-Media, 320 Seiten, 430 Fotografien, 59,95 Euro