Hamburg. Tim Oehler hat einen Bildband über „Sex-Workers“ und ihren Alltag veröffentlicht. Mit Pornografie hat das nichts zu tun.
Die Angestellten an der Rezeption wunderten sich nicht weiter: Herrenbesuch für die zuvor allein angereiste Frau auf einem der Zimmer. Auch dass der Besucher etliche Utensilien bei sich trug, fiel nicht weiter ins Gewicht. Hotelalltag. Was sich oben genau abspielte, hätte kühnste Fantasien übertroffen. Denn im Fokus dieser ungewöhnlichen Treffen stand ein Kunstprojekt mit Hauptdarstellerinnen aus dem Sexgewerbe. Der Titel passt ins Bild: „Sex-Workers. Das ganz normale Leben.“ Daraus entstand ein Bildband, der überrascht: weil an diesem Buch nichts normal ist – weder Thema noch Motive, weder Autorinnen noch Fotograf.
Der Job, einen Spagat zwischen professioneller Sexarbeit und Privatsphäre kunstvoll in Szene zu setzen, ist reizvoll. Zwar enthält das 288 Seiten umfassende Werk erotische Seiten, andere wiederum sind knallhart unromantisch, bizarr offenherzig und entwaffnend persönlich, wirklich berührend. Sehenswert ist das Ergebnis allemal – mit plumpem Sex oder gar Pornografie hat es nichts zu tun.
Tim Oehler ist eine Nachteule
„Offenheit ist das, was alle eint“, sagt Tim Oehler beim Frühstück in einem portugiesischen Café an der Ottenser Hauptstraße. Gemeinsam mit Ehefrau Barbara und sieben Mitarbeitern betreibt er eine Werbeagentur sowie eine Zeitarbeitsfirma in Nähe des Altonaer Bahnhofs. Der Berufsfotograf und Werbeprofi, seit Jahren Dauerkartenbesitzer beim FC St. Pauli am Millerntor, ist eher eine Nachteule.
Zu später Stunde entstanden seine ersten Bücher: „Blickwinkel St. Pauli“, eine indirekte Liebeserklärung an diesen Stadtteil, sowie „Corona Nights Hamburg“ mit einsamen Ansichten zentraler Mittelpunkte der Hansestadt während der Pandemie. Tristesse, markant belichtet und extravagant fotografiert.
Perspektiven, die vom Alltäglichen abweichen
Beim aktuellen Buch geht es um Perspektiven, die vom Alltäglichen abweichen, gleichfalls um Haltung und Selbstverständnis. Auf 450 Fotos sind 30 „Sex-Workers“ abgebildet: 24 Frauen, vier Männer und eine Transsexuelle. Diese Menschen für das Projekt zu begeistern war ein Kunststück für sich.
Freizügig sind nicht nur hochwertige Aktfotos, sondern Lebenseinstellung und die Bereitschaft, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Um seine Idee zu verwirklichen, reiste Tim Oehler mehrfach durch Deutschland. Nach vorheriger Verabredung traf er Sexarbeiterinnen in Städten wie Leipzig, Berlin, Bochum, Bonn und Frankfurt. Eine Hamburgerin ist ebenfalls dabei; allerdings arbeitet sie anderswo.
Hamburg ist ein besonderes Pflaster
Einsatzorte waren neben Hotelzimmern Bordelle, Studios, Arbeitsräume in Wohnungen, Stripläden und Clubs mit Stangentanz. „Jeder wusste sehr genau, was er wollte – und tat“, sagt Oehler. Als Honorar gab es die Fotos zur freien Verwendung. Der zweifache Familienvater, aufgewachsen in Trittau und wohnhaft in Altona, ließ kaum eine Sparte aus. Speziell beleuchtet, fotografierte er Menschen, die als Prostituierte, Dominas, Tantra-Masseure, Fetisch-Ärztinnen oder Fesselmeister arbeiten. Nichts ist unmöglich.
Dass Hamburg ein besonderes Pflaster ist, spürte er am eigenen Leibe: „Ich holte mir nicht nur einmal eine blutige Nase.“ Als er mit einem Stapel Visitenkarten auf St. Pauli um die Gunst der Damen in Form einer Beteiligung an seinem Kunstprojekt buhlte, stieß er auf auf wenig Gegenliebe. Offensichtlich waren die Herbertstraße und der Straßenstrich im Bannkreis der Reeperbahn nicht das ideale Pflaster zum Kobern für ein Kunstbuch.
Ästhetik und Augenhöhe
Letztlich bahnte ein Kontakt zum „Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen“ den Weg. Nach und nach sprach sich das kunstbetonte Ansinnen der Aktion herum. Nicht ein verkappter Lustmolch wollte zur Kamera greifen, sondern ein Profi mit Faible für Ästhetik und Augenhöhe.
In genau diesem Rahmen keimte vor sechs Jahren die Idee. „Pracht und Elend – Bilder der Prostitution“ hieß eine Ausstellung im renommierten Musée d’Orsay in Paris. Dort betrachtete Tim Oehler Werke von berühmten Malern wie van Gogh, Degas, Manet und Toulouse-Lautrec zum Thema „käuflicher Sex“. Warum, fragte er sich, reagiert das Publikum bei Anblick solcher Motive angetan, während parallel auf dem Straßenstrich der Hauptstadt die Nase gerümpft wird?
Tiefe Einblicke
Dieser Kontrast ließ den 49-jährigen Norddeutschen nicht mehr los. Und als sich durch den Kontakt zum einschlägigen Berufsverband die ersten Sexarbeiterinnen meldeten, legte er fotografisch los. Schnörkellos. Zaungast Oehler porträtierte Menschen in ihren Arbeitssituationen ebenso wie im Privatbereich. Diese Melange grundverschiedener Motive garnierte er mit eigenen Texten der Mitwirkenden. So ergeben sich tiefe Einblicke. Es gibt künstliches Rotlicht im Job ebenso wie Alltag bei Tageslicht. Kunst dieser Art bedarf keiner Kommentare und Erklärungen.
Die Fotos sprechen für sich. Sie sagen mehr als viele Worte und zeigen „Sex-Workers“ sehr persönlich und privat: beim Einkaufen, Sport, Kochen, Lesen im Schlafanzug. Einer läuft Inlineskate, andere spielen Klavier, Geige oder Gitarre, gehen mit ihrem Hund Gassi, führen ein Pferd am Zügel, reparieren ein Kinderfahrrad oder kümmern sich um die Wäsche. Kontraste können verblüffend sein. Das ganz normale Leben eben. Nur anders als die Norm. Wobei sich der Betrachter fragt: Was ist eigentlich die Norm?
Sehgewohnheiten und Denkmuster durchbrechen
„Es geht um Intimität“, philosophiert Tim Oehler, „körperlich wie seelisch.“ Devise: „Urteile nicht über ein Leben, dass du nicht selbst gelebt hast.“ Nur wenn man seine Sehgewohnheiten und Denkmuster durchbreche, sei man tatsächlich aufmerksam. Mit diesem Anspruch erscheint der opulente Bildband im Hamburger Gingko Press Verlag. Der Umschlag ist mit lilafarbenem Samt verkleidet, das Werk mit einem Schuber ausgestattet. Preis: 69 Euro.
Erhältlich im Buchhandel oder über www.sex-workers.de. Bei einer Auflage von 4000 Exemplaren soll es kein Zuschussgeschäft werden. Großen Gewinn werde und wolle er nicht machen, sagt Tim Oehler. Das Projekt sei ihm eine Herzensangelegenheit. Mit einigen Mitwirkenden hält er nach wie vor Kontakt.
Dass die Buchvorstellung an diesem Donnerstag in Bochum stattfindet, liegt am Verein Madonna. Die dort ansässige, 1991 gegründete Organisation fördert berufliche und kulturelle Bildung von Sexarbeiterinnen. In Hamburg soll es demnächst eine Ausstellung mit beeindruckenden Motiven geben. Gemeinhin tabuisierte Sexarbeit bekommt Gesichter – respektvoll, offen, insgesamt wertschätzend.