Hamburg. Entlastung für Terminnöte Hamburger Eltern und die Notaufnahme am Wilhelmstift. Was die neue Kinderarztpraxis ausmacht.
Die neue Kinderarztpraxis, die am Mittwoch in Rahlstedt eröffnet hat, ist ein Novum in der Hamburger Medizinlandschaft. Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) betreibt sie selbst mit angestellten Ärztinnen. Dabei ist das im Prinzip überhaupt nicht der Auftrag der KV.
Sie soll Arztsitze an freiberuflich Niedergelassene vergeben und die Versorgung sichern. Doch wenn es kaum Nachwuchs an Kinderärzten gibt, die eine Praxis übernehmen wollen, andernorts sogar eine etablierte Einrichtung aus wirtschaftlichen Gründen schließen muss, sind neue Ideen gefragt. Hamburg ist nach wie vor eine Babyboom-Stadt. Etwa jedes vierte Kind in den Praxen kommt aus dem Umland – und durch den Zuwachs an Kindern von Geflüchteten ist der Bedarf enorm.
Praxis in Rahlstedt: Kassenärzte starten Pilotprojekt in Hamburg, hoher Bedarf
KV-Vorstandschef John Afful sagte, die Praxis solle am Ende des Jahres schwarze Zahlen schreiben. Ein fest definiertes Ziel ist das aber offenbar ebenso wenig wie die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Vorerst steht fest: Die Räume an der Grubesallee 18 sind für drei Jahre gemietet. Fünf Behandlungsräume machen eine Aufstockung der Ärzteriege möglich, wenn der Bedarf steigt. Und davon geht auch Dr. Claudia Haupt aus, die Vorsitzende des Landesverbandes der Kinder- und Jugendärzte.
Die Praxen in Hamburgs Osten sollen entlastet werden, außerdem die Notaufnahme des nahen Kinderkrankenhauses Wilhelmstift. Dorthin kommen viele Eltern mit kranken Kindern, wenn sie keine Termine zu regulären Sprechzeiten bekommen. Die sind in der neuen Praxis montags bis freitags von 9 bis 16 Uhr. Sie können telefonisch gebucht werden (040/57 00 67 80 und 116 117) oder im Internet über die Homepage der Praxis und die www.116117.de. Haupt sprach von einem „nicht unerheblichen Baustein zur Verbesserung der pädiatrischen Versorgung in Hamburg“.
Die rot-grünen Bürgerschaftsfraktionen hatten Anträge gestellt, die CDU und die Linken mit Anfragen an den Senat Druck gemacht, um eine bessere, auf die Bedürfnisse von Bezirken und Quartieren abgestimmte Versorgung mit Haus- und Kinderärzten zu erreichen. Der KV waren zum Teil die Hände gebunden: Auf der einen Seite geben die gesetzlichen Bestimmungen solch eine Eigengründung nicht sofort her. Andererseits fehlt der medizinische Nachwuchs vor allem bei den Pädiatern. Gerade viele ausgebildete Kinderärztinnen ziehen einen Teilzeitjob und eine Anstellung einer selbstständigen Tätigkeit in einer Praxis vor. Trotz der angemessen erscheinenden Kopfzahl an Ärzten kann die zur Verfügung stehende Arbeitszeit nicht ausreichend sein. Zudem machen manche Kinderärzte nicht die „Normalversorgung“, sondern haben sich auf Teilgebiete spezialisiert und fallen für das „Brot- und Buttergeschäft“ wie Vorsorge und Impfen aus,
Grippe und RSV grassieren in Hamburg
Als erste Kinderärztin arbeitet in Rahlstedt nun Dr. Annalena Sieverding (34). Sie war bislang im Altonaer Kinderkrankenhaus tätig. „Wir werden uns vorerst auf die Akutversorgung fokussieren“, sagte Sieverding im Gespräch mit dem Abendblatt.
In den Praxen, bestätigte Haupt, grassiere bereits die Grippe und das RS-Virus. Es komme zu Lungenentzündungen, für die die passgenauen Antibiotika nach wie vor oft fehlen. So kann sich Sieverding sofort an eine der Haupttätigkeiten von Kinderärztinnen in diesen Tagen gewöhnen: Telefonate mit Apothekern, wo welches Antibiotikum verfügbar ist.
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Nicht nur die nach wie vor stockende Arzneimittelversorgung, sondern auch die Umgewöhnung auf das elektronische Rezept (das Abendblatt berichtete) machen Praxen und Patienten in diesen Tagen zu schaffen. Neugeborene laufen zunächst auf der Gesundheitskarte der Mutter mit, ehe sie als Kleinkinder von der Krankenversicherung eine eigene Chipkarte für die ärztliche Behandlung erhalten.
Die Praxis in Rahlstedt liegt an einer Seitenstraße unweit des Rahlstedter Bahnhofs. Ihr Einzugsgebiet wird nicht nur der Hamburger Osten sein, sondern auch Teile von Schleswig-Holstein. Die KV hatte auch mit dem Medizinischen Versorgungszentrum in Billstedt über den Standort verhandelt, in dem wie berichtet die Kinderarztpraxis aus wirtschaftlichen Gründen vor dem Aus steht. Zu einer Einigung mit dem Betreiber ist es jedoch nicht gekommen. Was bei einer Schließung dieser Praxis mit den knapp 9000 dort versorgten Kinder geschieht, ist ungewiss.
Billstedter Kinderarztpraxis vor dem Aus
In Billstedt wurden als Gründe für die Situation die geringeren Zahlen an behandelten Kindern aufgrund von erheblichem Mehraufwand für die Verständigung zwischen Ärzten und Patienten aus vorwiegend migrantischen Familien angeführt. In Rahlstedt hieß es jetzt, diesem Problem müsse man sich auch dort stellen. Kinderärztin Sieverding sagte, die oft improvisierte Kommunikation kenne sie bereits aus dem AKK. Auch in den Behandlungsräumen im Kinderkrankenhaus ist Deutsch oft die erste Fremdsprache. Sieverding sagte: „Das ist für mich nicht das große Hindernis. Mit Händen und Füßen kann man viel machen.“ Es gebe „große Hilfen“ durch digitale Anwendungen. Die Erfahrung zeige, dass man mit Handy und Übersetzungs-Apps viel erreichen könne. „Die Eltern sprechen ins Handy, die App übersetzt es sofort und direkt auf Deutsch. Das funktioniert auch bei Medikamenten.“
Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) hatte zuletzt beklagt, die auf dem Papier bestehende „Überversorgung“ mit Ärzten in Hamburg bilde die Realität nicht ab. Der Zuzug und die wachsenden Stadtteile seien in den nackten Zahlen für ganz Hamburg nicht adäquat berücksichtigt.
Annalena Sieverding hat sich sehr bewusst auf den Job in Rahlstedt beworben. In der Klinik sah sie die Kinder zumeist nur kurz oder über die Zeit ihres stationären Aufenthalts. „Ich habe mich oft gefragt, was wohl aus den Kindern geworden ist. Hier habe ich die Möglichkeit, die Patientinnen und Patienten über Jahre zu begleiten.“