Hamburg. Vor welchen Herausforderungen Guido Christensen auf seinem „Traumposten“ steht und welchen Wunsch er an den rot-grünen Senat hat.

Er übernimmt den Spitzenposten in ausgesprochen schwierigen Zeiten. Das Amtsgericht mit seinen sieben über die Stadt verteilten Standorten gilt seit Jahren als ein Problemfall der Justiz. Es gibt Kritik an zu langen Verfahrensdauern, sogar von drohendem Stillstand der Rechtsprechung ist die Rede, vor allem weil die Personallage in den Geschäftsstellen geradezu prekär ist. Gleichwohl bezeichnet Guido Christensen, seit Mittwoch Präsident des Amtsgerichts Hamburg, die neue Aufgabe als seinen „Traumposten“. Er wolle helfen, die „Lage zu verbessern“, betont der 59 Jahre alte Topjurist. Die Bewältigung der vielen Problemsituationen sei „schon eine Herausforderung“.

Christensen, bisher Vizepräsident des Oberlandesgerichts, steht künftig an der Spitze des größten Einzelbereichs der Hamburger Justiz und ist Chef von rund 1600 Mitarbeitern, davon sind knapp 340 Richter und Richterinnen. Zum Amtsgericht gehören die Bereiche Straf- und Ziviljustiz, Familien- und Betreuungssachen, Nachlassangelegenheiten, Insolvenz- und Zwangsvollstreckungsverfahren, die Grundbuchämter und das Handelsregister.

An vier Amtsgerichten ist die Lage momentan „sehr schwierig“

Im Gespräch mit dem Abendblatt beschönigt Christensen die Lage nicht. „Ich stimme im Prinzip der Diagnose zu, dass es den Amtsgerichten überhaupt nicht gut geht. Es gibt Amtsgerichte, die ihre Aufgaben weiterhin gut bewältigen, aber auch andere, deren Situation sehr schwierig ist. Dazu zählen nach meiner Wahrnehmung momentan insbesondere Altona, Harburg, St. Georg und Barmbek“, sagt Christensen.

In einem Brandbrief an Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) hatte die Hanseatische Rechtsanwaltskammer im Sommer dieses Jahres sogar von einer „Kapitulation der Justiz“ gesprochen, weil das Zivilsegment des Amtsgerichts wegen des Personalmangels seine Aufgaben nur noch priorisiert bearbeitet. Das heißt, die eilbedürftigen Fälle werden vorgezogen, der Rest auf die lange Bank geschoben.

90 der rund 600 Posten in den Geschäftsstellen sind nicht regulär besetzt

Von „Kapitulation“ spricht Christensen nicht. Aber als das „mit Abstand gravierendste Problem“ bezeichnet auch der Amtsgerichtspräsident den Fachkräftemangel in den Geschäftsstellen. „Derzeit sind etwa 50 der rund 600 Stellen im Bereich der Geschäftsstellen ganz unbesetzt und weitere 40 nur mit Studierenden, also temporären Mitarbeitern“, sagt Christensen.

„Es ist schon bitter, dass so viele Stellen offen sind. Wenn die Kolleginnen und Kollegen beständig gegen Berge unerledigter Arbeit ankämpfen müssen, sinkt die Motivation, und die Krankenstände steigen. Die verbleibenden Mitarbeiter müssen dann noch mehr Arbeit bewältigen. Irgendwann kommt ein Kipppunkt, bei dem ein Bereich überhaupt nicht mehr arbeitsfähig ist“, sagt Christensen. Schon sein Amtsvorgänger Hans-Dietrich Rzadtki hatte 2022 vor dem Rechtsausschuss der Bürgerschaft darauf hingewiesen, dass sich die Belastung der Mitarbeitenden in den Geschäftsstellen, „die den Betrieb am Laufen halten“, der „roten Linie“ nähere und der Kipppunkt bald erreicht sei.

Die Amtsgerichte sind das einzige Gericht, mit dem die meisten Menschen in Berührung kommen

Christensen betont, dass gerade die Amtsgerichte mit ihren vielfältigen Aufgaben jenseits spektakulärer Prozesse eine große Bedeutung für das Leben der Menschen haben. Für den größten Teil der Bevölkerung dürften die Amtsgerichte das einzige Gericht sein, mit dem sie jemals in Berührung kämen. Insofern stellt sich die Frage, inwieweit die Einschränkungen gefährlich für das Funktionieren des Rechtsstaats und die Akzeptanz der Justiz sind. „Was ich wirklich gefährlich finde, ist, wenn das Funktionieren der Amtsgerichte in Bereichen nicht mehr gewährleistet ist, die grundrechtsintensiv sind und bei denen durch Verzögerungen schwere Folgen eintreten können“, sagt der Jurist, der von Haus aus Amtsrichter ist. Das gelte zum Beispiel für das Betreuungsverfahren, wenn es so weit komme, dass Post nicht mehr geöffnet werde und Entscheidungen nicht mehr zügig gefällt würden. Oder wenn in Verfahren betreffend Kindeswohlgefährdungen nicht schnell genug reagiert werde.

Hoffnung macht Christensen, dass der rot-grüne Senat einen Beschluss des Bundesarbeitsgerichts umgesetzt hat, nach dem die Tarifbeschäftigten in den Geschäftsstellen besser bezahlt werden. Durch eine geänderte Eingruppierung erhalten Angestellte bei Neueinstellungen gut 400 Euro monatlich mehr – brutto 3136 Euro statt bislang 2725 Euro. „Das ist eine deutliche Verbesserung und versetzt die Amtsgerichte, ebenso wie die anderen Gerichte, in die Lage, wieder wettbewerbsfähig zu werden gegenüber anderen Organisationen“, sagt der Jurist. „Es war so, dass ein massiver Verlust an Arbeitskräften in Richtung anderer Behörden, auch in Richtung Polizei, zu beobachten war.“

Der Amtsgerichtspräsident warnt vor einer Schieflage bei den Gehältern

Inzwischen gebe es auch wieder mehr Bewerber für die justizinterne reguläre Ausbildung. Im vergangenen Jahr konnten nur knapp 30 der 60 Plätze besetzt werden. Der Amtsgerichtspräsident setzt außerdem auf das Programm, Quereinsteiger für den mittleren Dienst in den Geschäftsstellen zu gewinnen. „Das Konzept ist, glaube ich, der derzeit beste Ansatz zur Problembewältigung. Ich habe auch kein Patentrezept, werde aber die eine oder andere Idee beisteuern können“, sagt Christensen.

Allerdings: Rund die Hälfte der Geschäftsstellen-Mitarbeiter sind Beamte, und für sie gilt die Tariferhöhung nicht. „Da muss unbedingt etwas passieren, denn jetzt ist eine Schieflage entstanden. Die Verbesserungen für die Angestellten müssen auch auf die Beamten übertragen werden“, lautet der dringliche Wunsch des Topjuristen.

Christensen treibt die Sorge um, der Richterberuf könnte auf Dauer unattraktiver werden

Für Aufsehen sorgte vor Kurzem die Forderung des Hamburgischen Richtervereins, in dessen Vorstand Christensen sitzt, die monatliche Besoldung der Richter und Staatsanwälte um 2000 Euro zu erhöhen. „Mit den 2000 Euro habe ich mich etwas schwergetan. Die Forderung ist aber nicht falsch, wenn man unsere Besoldung mit den Einstiegsgehältern der Anwälte in Großkanzleien vergleicht. Da geht es inzwischen um Jahreseinkommen von 150.000 oder sogar 200.000 Euro. Um diese Schere nicht immer weiter zu öffnen, bedürfte es dringend einer erheblichen Anhebung der Richtergehälter“, sagt der Gerichtspräsident. Verglichen mit den Gehältern der anderen Funktionsgruppen im öffentlichen Dienst sei die Forderung des Richtervereins allerdings „sportlich“.

Den Juristen treibt die Sorge um, dass der Richterberuf wegen des finanziellen Ungleichgewichts zur Privatwirtschaft auf Dauer unattraktiver werden könnte. Es gehe darum, „mit den Großkanzleien und der Anwaltschaft auf Augenhöhe“ zu bleiben. „In Hamburg bekommen wir das noch ganz gut hin, aber wenn sich die Entwicklung so fortsetzt, befürchte ich, dass die Argumente für eine Tätigkeit in der Justiz irgendwann nicht mehr genügen werden, um qualifizierte Richterinnen und Richter anzuziehen“, so Christensen.

Der Topjurist hat schon vor 20 Jahren ein Projekt zur IT-Einführung geleitet

Dabei hat das Bundesverfassungsgericht die Richterbesoldung schon vor Jahren als zu niedrig und verfassungswidrig eingestuft. „Es ist bedauerlich, dass die Rechtsprechung zur amtsangemessenen Besoldung von den Ländern nur schleppend umgesetzt wird“, sagt der Gerichtspräsident. Es sei auch nicht in Ordnung, das Problem durch recht hohe Zulagen zum Beispiel vom dritten Kind an zu lösen, wie es jetzt geplant ist. „Das ist eigentlich nicht das, was unter einer amtsadäquaten Besoldung zu verstehen ist“, so Christensen, der aber auch den Finanzsenator verstehen kann, wenn er auf die Finanznot in Hamburg verweise.

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Der Präsident des Amtsgerichts gilt in Justizkreisen als IT-affin und hat schon vor 20 Jahren das Projekt zur Einführung der digitalen Technik beim Insolvenzgericht geleitet. Christensen warnt davor zu erwarten, dass die elektronische Akte zu weniger Arbeit führt. „Das Problem liegt darin, dass die Erstdatenerfassung beim Anlegen der E-Akten für die Geschäftsstellen einen Mehraufwand bedeutet“, sagt der Jurist. Vom Gesetzgeber war vorgesehen, dass die Anwaltschaft mit den Schriftsätzen Strukturdaten mitliefern sollte. „Das ist allerdings lediglich eine Sollvorschrift, die in der Praxis nach meinem Kenntnisstand bislang nicht umgesetzt wurde“, sagt der Jurist.

Aus Sicht des Gerichtspräsidenten bringt die Einführung der E-Akte insgesamt Vorteile

„Weiterhin muss berücksichtigt werden, dass die Einführung der E-Akte keine Erhöhung der Effizienz der Geschäftsstellen zur Folge hatte. In erster Linie wurden die traditionellen Abläufe digitalisiert“, sagt Christensen. Deswegen werde mittelfristig die Einführung einer „E-Akte 2.0“ erforderlich werden. Wirklich sinnvoll sei die E-Akte allerdings jetzt schon für die Richter: Man könne darin leichter suchen, sie sei jederzeit zur Hand und ermögliche zudem mobiles Arbeiten. „Ich glaube, dass das insgesamt Vorteile bringt“, sagt Christensen.

So oder so ist der Jurist gewappnet für die vielfältigen Aufgaben, die ihn erwarten. „Mir ist es ein Anliegen zu gestalten und nicht nur dabeizusitzen, wenn andere entscheiden“, betont Christensen.

Zum Ausgleich wandert der „begeisterte Bergedorfer“ gern in den Alpen und geht in die Oper

„Ich habe Fähigkeiten und Stärken in den Bereichen Organisation und IT, glaube aber auch, dass ich ein guter Zuhörer bin. Ich bin nicht unbedingt ein Netzwerker, der tausend Kontakte in der Politik hat. Mein Hauptanliegen wird sein, in den Amtsgerichten zu wirken.“ Darüber hinaus sei er ein engagierter Familienrichter, der auch weiterhin in dem Bereich wirken und mit 20 Prozent seiner Arbeitszeit eine Abteilung beim Familiengericht übernehmen werde.

So viel Engagement braucht einen Ausgleich, den Christensen in seinem persönlichen Umfeld findet. „Ich bin ein begeisterter Bergedorfer“, erzählt der 59-Jährige. Im Urlaub wandert er gern in den österreichischen Alpen. „Und ich gehe gern in die Oper.“ Aber auch in der Freizeit engagiert sich Christensen für andere. „Seit 2016 mache ich einmal in der Woche Hausaufgabenbetreuung in einer Flüchtlingseinrichtung für Jugendliche in Bergedorf.“ Und die Justiz spielt auch über sein neues Amt als Gerichtspräsident hinaus eine große Rolle in Christensens Leben: „Weiter bin ich Prüfer in beiden Staatsexamina und engagiere mich als Beirat der Studierendenorganisation ELSA für die juristische Ausbildung. Letzte Woche haben wir den jährlichen ELSA Moot Court – eine Prozess-Simulation für Studierende – am Oberlandesgericht durchgeführt.“