Hamburg. Neun Angeklagte nach Martyrium einer 15-Jährigen in Hamburg verurteilt, einer muss ins Gefängnis. Wie das Mädchen bis heute leidet.
- Nach der Gruppenvergewaltigung im Hamburger Stadtpark wurden neun Männer verurteilt
- Nur einer von ihnen kommt nach dem Urteil des Landgerichts ins Gefängnis
- Für die 15-Jährige ist seit dem Martyrium „nichts mehr wie vorher“
Sie taumelte. Sie war verwirrt und verzweifelt. Sie wirkte, als sei gerade ihre Welt zusammengebrochen. Sabine (Name geändert) war sichtlich schwer beeinträchtigt. Gerade war die damals 15-Jährige von mehreren jungen Männern vergewaltigt worden. Wie sehr das Geschehen die Jugendliche erschütterte, war für viele Menschen, die ihr in jener Nacht im Hamburger Stadtpark begegneten, offensichtlich.
Doch das Martyrium der 15-Jährigen war noch nicht vorbei. Erneut wurde sie missbraucht, von weiteren Tätern, die ihre Hilflosigkeit ausnutzten. Mehr als eine Stunde lang kam es immer wieder an unterschiedlichen Stellen im Schutze der Dunkelheit zu Übergriffen.
Vergewaltigung im Stadtpark: Jugendstrafen für die Angeklagten
Am Dienstag erging nun das Urteil über zehn Angeklagte, die sich wegen der Vergewaltigung der Jugendlichen am späten Abend des 19. September 2020 vor dem Hamburger Landgericht verantworten mussten: Ein junger Mann erhielt eine Jugendstrafe von zwei Jahren und neun Monaten.
Vier Angeklagte wurden zu Jugendstrafen zwischen einem und zwei Jahren mit Vorbewährung verurteilt. Das bedeutet, dass erst nach sechs Monaten entschieden wird, ob diese jungen Männer sich eine Bewährungsstrafe „verdient“ haben. Gegen vier weitere Angeklagte sprach das Gericht Jugendstrafen zwischen 15 Monaten und zwei Jahren aus, die jeweils zur Bewährung ausgesetzt wurden. Ein Angeklagter wurde freigesprochen.
Was die Hamburger Richterin den Angeklagten mit auf den Weg gibt
Die Beweisaufnahme in dem 68 Verhandlungstage dauernden Prozess habe ergeben, dass die 15-Jährige den sexuellen Handlungen nicht zugestimmt habe, betonte die Vorsitzende Richterin in der Urteilsbegründung. Allen Angeklagten habe klar sein müssen, dass das, was sie der Jugendlichen im Stadtpark antaten, „nicht dem wirklichen Willen“ der jungen Frau „entsprach“, so Richterin Anne Meier-Göring.
„Aber leider war ihnen das letztlich egal, weil sie ihre eigenen sexuellen Bedürfnisse befriedigen wollten. Da war das hübsche, betrunkene, fast willenlose Mädchen.“ Die Angeklagten hätten sich darüber hinweggesetzt, dass die Jugendliche in diesem Zustand zu einer Willens- und Äußerungsfähigkeit nicht in der Lage war. „Sie haben gegen den erkennbaren Willen der Nebenklägerin gehandelt.“
Urteil zu Vergewaltigung in Hamburger Stadtpark: „Nein heißt nein“
Vor allem aber: „Nein heißt nein. Und Ja heißt nur dann ja, wenn es keinen Zweifel an der Zustimmung des anderen gibt“, fasste die Richterin den entscheidenden Tenor des im Jahr 2016 reformierten Sexualstrafrechts zusammen. „Wenn es doch Zweifel gibt, muss man im wahrsten Sinne des Wortes die Finger davon lassen.“
Zwar habe nicht festgestellt werden können, dass es zu körperlicher Gewalt gegen das Opfer gekommen war. Weder habe sich die Jugendliche an solche Details erinnern können, noch gebe es ein objektives Verletzungsbild, das körperliche Gewaltanwendung nahelege. Aber die damals 15-Jährige habe als Zeugin berichtet, dass sie von „einem Gefühl der Ohnmacht“ übermannt gewesen sei.
Vergewaltigung im Stadtpark: Schülerin hatte zur Tatzeit 1,6 Promille
Die Beweisaufnahme habe ergeben, erklärte die Richterin, dass sich die Übergriffe in mehreren Phasen über etwa eineinviertel Stunden hinzogen, in denen immer wieder junge Männer die Jugendliche in schwer einsehbare Regionen des Stadtparks führten und sich an ihr vergingen. Dabei nutzen sie laut Urteil aus, dass die mit rund 1,6 Promille alkoholisierte Jugendliche nicht mehr entscheiden beziehungsweise artikulieren konnte, was sie wollte.
Doch schließlich wurde Sabine zunehmend klar, was hier geschah und was ihr angetan wurde – und dass weitere Männer ihr offenbar nachstellten. Sie lief zurück auf die Festwiese, dorthin, wo mehrere Leute unterwegs waren. Hier endlich fand die Jugendliche Unterstützung. Passanten erkannten die Panik der Schülerin, sahen ihre mit Angst erfüllten Augen. Ihnen erzählte Sabine, dass sie von mehreren Männern verfolgt werde. Die Gruppe versuchte, aus der 15-Jährigen herauszubekommen, was geschehen war. Ihr erzählte Sabine bruchstückhaft, was sich zugetragen hatte. Die Passanten alarmierten die Polizei.
Vergewaltigungsopfer aus Hamburger Stadtpark hatte Panik und angsterfüllte Augen
Vor allem die vier Täter, die als Erstes die hilflose Lage der Jugendlichen ausnutzten, hätten erkennen müssen, „dass sie die Handlungen sämtlich nicht wollte“, sagte die Richterin. So habe die 15-Jährige unter anderem eine Schutzhaltung eingenommen. Gleichwohl hätten die jungen Männer sexuelle Handlungen an der Schülerin in unterschiedlicher Schwere vorgenommen. Dies habe das Opfer „aus Angst und Verstörung über sich ergehen“ lassen.
Die Geschehnisse aus der Nacht vom 19. September 2020 hatten Hamburg erschüttert. Von „Gruppenvergewaltigungen“ einer Schülerin war die Rede und davon, dass die betrunkene und hilflose Jugendliche immer wieder von mehreren Männern „in ein Gebüsch gezerrt worden“ sei, um sich dort an ihr zu vergehen.
Richterin: Unschuldsvermutung sei „mit Füßen getreten worden“
Die Empörung über die Tat in der Öffentlichkeit war groß, schließlich sorgten einige dafür, dass die Namen und Fotos der Verdächtigen im Netz veröffentlicht und zur Selbstjustiz aufgerufen wurden. Ein schneller Prozess und harte Strafen wurden gefordert. Sie verstehe, „dass die Tat in besonderem Maße die Öffentlichkeit interessiert, große Bestürzung auslöst und die Frage aufwirft, wie so etwas passieren kann“, sagte Richterin Meier-Göring.
Aber sie begreife nicht, wie der Justiz noch vor Beginn einer Hauptverhandlung ein Versagen vorgeworfen werden könne, „weil die Angeklagten noch nicht hinter Schloss und Riegel sind“. Wie könne es sein, dass „die Unschuldsvermutung dermaßen mit Füßen getreten wird, dass Namen veröffentlicht werden?“, fragte die Richterin und betonte: Es sei ein wichtiger Grundsatz, dass nur nach einer gerichtlichen Beweisaufnahme über Schuld und Unschuld entschieden werden kann.
„Es war lange lange Zeit alles andere als klar, was genau passiert ist“
Und hier in dem anderthalb Jahre dauernden Prozess sei bemerkenswert gewesen, wie unterschiedlich die Geschehnisse wahrgenommen und bewertet wurden. Es habe sich um „vielschichtige Geschehnisse“ und „eine Komplexität der Taten“ gehandelt, so die Richterin. „Es war ein Mammut-Indizienprozess, in dem lange Zeit alles andere als klar war, was genau passiert ist. Es war wenig Schwarz oder Weiß. Es gab viele Grautöne.“ Es hätten sich „Fragen über Fragen“ gestellt, weil das Opfer praktisch keine Erinnerung mehr gehabt habe.
Über vier Hauptverhandlungstage war die damals 15-Jährige im Prozess gehört worden. So gut sie es konnte, hatte sie ihre Erinnerungen an die Tatnacht dargelegt. Nach den Übergriffen hatte sie eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, an der sie nach Überzeugung von Sachverständigen auch heute noch leidet. „Die Traumatisierung war auch im Prozess noch wahrnehmbar“, sagte die Richterin dazu.
Vergewaltigungsopfer aus Stadtpark hat erzählt, dass „nichts mehr ist wie vorher“
Aber bei dem Opfer handele es sich um „eine sehr tapfere junge Frau, die sich nicht unterkriegen lässt“. Sie habe aber ebenso deutlich gemacht, dass „nichts mehr ist wie vorher“. Etwas sei „in ihr gestorben“. Sie hoffe, so die Richterin, dass die Jugendliche „zu einem wenigstens ansatzweise normalen Leben zurückkehren kann“.
Die Angeklagten hatten indes im Prozess angegeben, Sabine habe sich mit allen sexuellen Handlungen einverstanden erklärt. Es gab Zeugen, die sehr unterschiedliche Versionen der Geschehnisse geschildert hatten. Videos, die von der Tat gemacht wurden, waren von Zeugen gelöscht worden.
Von neun der Angeklagten wurden Spermaspuren gefunden
Und objektive Beweise, also Spermaspuren von neun Angeklagten, die auf der Kleidung der 15-Jährigen gefunden wurden, gaben zwar Hinweise darauf, dass es zu sexuellen Handlungen gekommen war. Aber nicht darüber, ob diese einvernehmlich gewesen sind.
Dass sie das eben gerade nicht waren, stellte die Richterin immer wieder im Laufe der rund einstündigen Urteilsbegründung klar. Ebenso deutlich betonte sie, dass das Gericht sich bei der Entscheidungsfindung nicht von Gefühlen oder gar einem Druck der Öffentlichkeit habe leiten lassen, sondern das Urteil das Ergebnis einer sehr aufwendigen Beweisaufnahme sei.
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Und so sei man zu der Überzeugung gekommen, dass Jugendstrafen zu verhängen sind. Die Staatsanwaltschaft hatte zuvor Jugendstrafen zwischen drei Jahren und 15 Monaten mit Bewährung gefordert, die Verteidigung auf Freispruch plädiert. Ein Angeklagter war bereits vor mehreren Monaten freigesprochen worden.
Eine Besonderheit des Jugendstrafrechts ist es, dass es laut Gesetzgeber vordringlich darum geht, auf den jungen Menschen „erzieherisch einzuwirken“, also ihn dazu zu bringen, sich in Zukunft gesetzeskonform zu verhalten. Dabei muss abgewogen werden, welche Maßnahme die sinnvollste ist. Eine Jugendstrafe kann überhaupt nur dann ausgesprochen werden, wenn bei einem Angeklagten eine sogenannte „schädliche Neigung“ oder eine „Schwere der Schuld“ festgestellt wird.
Bei acht jungen Männern wurde eine „Schwere der Schuld“ festgestellt
Diese „Schwere der Schuld“ sei bei acht der jetzt neun verurteilten jungen Männern festgestellt worden, sagte die Richterin. Sie hätten sich „gegen den erkennbaren Willen“ der 15-Jährigen durchgesetzt. Ein weiterer junger Mann habe aus einer „schädlichen Neigung“ heraus gehandelt.
Entscheidend für das Strafmaß ist aber auch der aktuelle Werdegang, also die Entwicklung eines jungen Menschen seit der angeklagten Tat. Bei den meisten der Angeklagten sei das Gericht zu dem Schluss gekommen, dass wegen ihrer in letzter Zeit zu beobachtenden positiven Entwicklung eine Bewährungsstrafe ausreiche. Beziehungsweise dass im Sinne der Vorbewährung noch einige Zeit geschaut werden müsse, ob sie sich eine Bewährung verdienen – also bereit sind, weiter an sich zu arbeiten. Allein einer der jungen Männer habe im Verfahren deutlich gemacht, dass er dies nicht wolle. Der Angeklagte habe bekundet, dass „er lieber ins Gefängnis“ gehe. „Was“, fragt Meier-Göring, „soll man dazu sagen?“
Kein Wort des Bedauerns von den Angeklagten vor Hamburger Gericht
Von den zehn Angeklagten haben nach Angaben eines Gerichtssprechers fünf die deutsche Staatsangehörigkeit, unter den übrigen sind ein Syrer, ein Montenegriner, ein Kuwaiter, ein Afghane und ein Armenier. Alle seien lange genug in Deutschland sozialisiert worden, um das Unrecht ihrer Taten zu verstehen, erklärte Meier-Göring. Die Richterin kritisierte zugleich das Verhalten der jungen Männer im Prozess: „Keiner der Angeklagten hat ein Wort des Bedauerns über die Lippen gebracht.“