Hamburg. In Hamburgs größter Flüchtlingsunterkunft in der City Nord gab es immer wieder Beschwerden der Anwohner. Nun sprechen Betroffene.

Den Artikel, über den alle reden, haben Robert, Petro und Laslo nicht gelesen. Sie wissen aber, dass er falsch ist. Oder besser: falsch sein muss. Sie wissen, dass in dem Abendblatt-Artikel Anwohner der Flüchtlingsunterkunft Überseering in der City Nord zu Wort kommen. Und sie glauben zu wissen, dass diese Menschen auch Dinge gesagt haben müssen, die nicht wirklich nett klingen.

Nachbarn der Einrichtung beschweren sich über Lärm, Dreck und Betrunkene“, stand Mitte September über dem Artikel. „Nichts davon stimmt“, sagt nun Petro. Beziehungsweise: Er lässt es sagen.

Roma Hamburg: Bewohner von Flüchtlingsunterkunft fühlen sich wie in Gefängnis

Es ist bereits ziemlich dunkel, als die drei Männer in dem sogenannten Begegnungscafé Nova auf der Veddel zum Kaffee bitten. Auf dem Tisch steht eine Schale mit Knabberzeug, eine zweite Schale mit Keksen. Daneben liegen Dokumente in Klarsichtfolien. Robert, Petro und Laslo sind ukrainische Flüchtlinge, sie sind Roma – und nach mehreren Vorgesprächen wollen sie nun ihre Geschichte erzählen.

Über die Flüchtlingsunterkunft in der City Nord, über die Anwohner und Behörden und über ein Leben voller Vorwürfe. Nur direkt können sie nichts davon erzählen, weil sie kein Deutsch und auch kein Englisch sprechen. Sie können nur ihre Muttersprache Romanes.

Hamburg: Nachbarn der Flüchtlingsunterkunft haben Roma-Familien beschuldigt

Deswegen sitzen auch Zumreta Sejdovic von dem Hilfsangebot Romani Kafava und Shlica Weiß vom Stadtteilprojekt Sonnenland mit am Tisch. Sie wollen übersetzen, greifen aber auch immer wieder in das Gespräch ein, machen ihren Unmut klar und erheben ihrerseits Vorwürfe. Ihr Tenor ist klar: Ihre Minderheit habe keine Lobby, die Medien würden einseitig berichten und die Roma werden auch in Deutschland schlecht behandelt – schlechter sogar noch als andere Flüchtlinge.

Doch ist das wirklich so?

Beweise haben die Frauen für ihre Anschuldigung nicht. Aber: Die zwei Jahre alte Studie „Mechanismen des institutionellen Antiziganismus: Kommunale Praktiken und EU-Binnenmigration am Beispiel einer westdeutschen Großstadt“ von Tobias Neuburger und Christian Hinrichs liegt zumindest den Schluss nahe, dass Roma-Familien durch die alltägliche Verwaltungspraxis oft diskriminiert werden.

Sozialsenatorin hat Strategie zur Bekämpfung des Antiziganismus vorgelegt

Das weiß natürlich auch Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD), die erst kürzlich in einem bürgerschaftlichen Ersuchen Neuigkeiten zur ,,Gesamtstrategie zur Bekämpfung des Antiziganismus und zur Förderung der gleichberechtigten Teilhabe der Sinti:zze und Rom:nja in Hamburg“ (Drucksache 22/5772) mitgeteilt hat. Im Rahmen des bisherigen Beteiligungsprozesses wären Hearings und Workshops unter Teilnahme von Vertretungen der Communitys durchgeführt worden, schreibt Schlotzhauer.

Petro weiß nichts von Hearings und Workshops. Er fühle sich in Deutschland wie in einem Gefängnis, sagt der 67-Jährige. Der Mann, der eigentlich ein gemütliches Gesicht hat, einen grauen Schnurrbart und ein paar Lachfalten, kann auch sehr böse gucken. Er lässt übersetzen, dass sie immer und überall überwacht werden würden, dass die Minderheit der Roma oft sehr schnell unter Generalverdacht stehe und dass er und seine Familie sogar weniger Geld als andere Flüchtlinge erhalten würden.

Roma sollen auch mit dem Z-Wort beleidigt worden sein

Auch hier gilt: Beweise für diese Vorwürfe gibt es nicht. Im Gegenteil. Die Behörde schickt eine ausführliche Antwort zu den Behauptungen. Der Kernsatz: „Die ethnische Herkunft der Schutzsuchenden ist für den Leistungsbezug nicht von Relevanz und wird überdies gar nicht erst erfasst.“ Doch auch die Vorwürfe einiger Nachbarn aus dem Artikel lassen sich nicht zweifellos untermauern. Mehrere Anwohner hatten darüber geklagt, dass es rund um die größte Flüchtlingsunterkunft in Hamburg extrem schmutzig sei, dass die Bewohner laut seien, oft betrunken und sogar klauen würden. Und dass es vor allem Roma seien, die für all das verantwortlich seien. Auch das Z-Wort, das Sinti und Roma grundsätzlich als antiziganistisches Vokabular ablehnen, soll häufiger gefallen sein.

Die Sozialbehörde kennt die Vorwürfe und weiß auch um die aufgeheizte Stimmung rund um die Flüchtlingsunterkunft in der City Nord, wo Beobachtern zufolge viele Roma-Familien untergekommen sein sollen. Eine Behördensprecherin sagt: „Derzeit prüfen die zuständigen Behörden und F&W intensiv, ob bei der Zielgruppe der Roma besondere Bedarfe bestehen, aufgrund derer gezielte Angebote zusätzlich geschaffen werden sollten. Hierzu besteht auch ein enger Dialog mit dem Sinti-Verein aus Lurup, der bereits in anderen Unterkünften gesonderte Angebote für Roma durchführt. Auch die niedrigschwelligen Sprachkurse sind auf diese Zielgruppe abgestellt.“ Und was die Unterbringung betrifft: Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe werde ja gar nicht erfasst. Aber: „Maßgeblich bei der Unterbringung ist, dass versucht wird, Familien, das heißt auch große Familienverbände, gemeinsam unterzubringen.“

Unter den Ukraine-Flüchtlingen sind auch viele Roma-Familien

Petro hat so einen großen Familienverband. Nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist er mit mehr als 40 Menschen aus Odessa nach Hamburg geflüchtet. Sechs Söhne, zwei Töchter, Cousins, Cousinen und andere. So ganz genau weiß er es nicht mehr. Was er aber ganz genau weiß, ist, dass er froh war, der Ukraine den Rücken zu kehren. „Dort hatten wir gar keine Lobby, keine Rechte“, sagt er.

Und auch keine echte Zukunft. Sohn Laslo sitzt neben Petro. Er wolle jetzt eine Zukunft in Deutschland haben, sagt er. Er würde auch arbeiten gehen. Als was? Laslo zuckt mit den Schultern. Als irgendwas. Als was hat er denn in der Ukraine gearbeitet? Wieder zuckt Laslo mit den Schultern. Er habe mal für einen Bauern gearbeitet, sagt die Übersetzerin. Mal dies, mal das.


Das Gespräch ist schwierig. Nicht nur wegen der Sprache. Bei jeder Nachfrage kommt der Verdacht auf, dass es ein Vorwurf sei. Oft überlegen die beiden Übersetzerinnen, ob sie die Fragen überhaupt übersetzen wollen. Dabei soll es in dem Gespräch doch eigentlich nur darum gehen, auch die andere Sichtweise zu hören.

Auch Robert zuckt mit den Schultern. Er wohne nicht mehr in der Unterkunft in der City Nord. Er sei jetzt von den Behörden in einem Hotel am Berliner Tor untergebracht worden. Petro und Laslo wohnen mittlerweile in einem anderen Hotel in St. Georg. Wie das Hotel heißt? Wieder Kopfschütteln. Den Namen wissen sie nicht. Auf Nachfrage erklärt die Behörde, dass es üblich sei, dass Bewohner der Interimsunterkunft in der City Nord auf andere Standorte verteilt werden. Petro holt sein Handy raus, zeigt ein Foto von einem Hotel. In einem kleinen Zimmer lebe er hier mit seiner Frau, dazu erhalte jeder 405 Euro von den Behörden.

Im europäischen Vergleich bekommen Asylbewerber in Deutschland meist mehr

Zum Vergleich: Asylbewerber in Frankreich erhalten für die Dauer des Asylverfahrens eine Finanzhilfe von 210,80 Euro pro Monat pro Einzelperson, eine vierköpfige Familie erhält 527 Euro. In Österreich gibt es drei Mahlzeiten am Tag sowie 40 Euro Taschengeld pro Monat. Und in Spanien erhalten erwachsene Asylbewerber, die während der ersten sechsmonatigen Phase in Gemeinschaftsunterkünften mit Verpflegung untergebracht sind, ein Taschengeld von 51,60 Euro pro Monat.

Sie seien Deutschland dankbar, sagt Petro. Nicht wegen des Geldes, sondern wegen der Freiheit. Hier dürfe jeder sagen, was er denke, sagt er. Hier darf er eben auch sagen, dass er sich wie in einem Gefängnis fühlt – ohne, dass er danach tatsächlich ins Gefängnis kommt. Doch gleichzeitig ärgere es ihn auch, dass zu viele denken, dass immer die Roma an allem Schuld hätten.

Roma-Flüchtlinge wehren sich gegen Vorwürfe von Anwohnern

Wie zum Beispiel die Anwohner der Flüchtlingsunterkunft aus dem Artikel? Genau, sagt Robert. Und bevor er mehr sagen kann, schimpft auch Übersetzerin Zumreta Sejdovic. All die Vorwürfe seinen falsch, sagt sie. Welche Vorwürfe genau sie meint, sagt sie nicht.

Je länger das Gespräch in dem Café dauert, desto weniger hat man die Hoffnung auf eine schnelle Lösung des Ganzen. Ein Behördensprecher sagt zwar, dass sich die Situation rund um die Großunterkunft in den vergangenen Wochen verbessert habe. Aber zwischen „Alle Vorwürfe und die Berichte darüber sind falsch“ (von den Beschuldigten) und „Die Roma sind schuld“ (von den Anklägern) gibt es auch nur wenig Raum für Grautöne. Es gibt nur Schwarz oder Weiß.

Ziemlich schwarz ist auch der Himmel, als man sich nach dem etwas mehr als einstündigen Gespräch in dem Café verabschiedet. Alle drei Roma geben die Hand, wünschen höflich eine gute Heimfahrt. Petro lächelt auch wieder. Er sagt (oder lässt sagen), dass genau das sein größter und auch einziger Wunsch sei: ein eigenes Heim.