Hamburg. Warum Nilgül weinen musste, Daniyal in Palästina leben und Abdul hier bleiben will: Fünf Schülerinnen haben ihre Mitschüler interviewt.

Artems Geschichte war einfach zu viel. „Als ich das alles hörte, musste ich losweinen“, sagt Nilgül. Der Ukrainer hatte der Deutschtürkin gerade erzählt, wie er am 17. März 2022 mit seiner Schwester und seiner Mutter

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    „Dann kam der Krieg, meine Stadt wurde zerstört“, sagte der 16 Jahre alte Schüler der Europaschule Poppenbüttel seiner Mitschülerin, die jedes Wort fleißig mitschrieb. Er vermisse seine Familie sehr, sagte Artem noch, „genauso wie meine Freunde und unser Haus“.

    Nilgül (19) sitzt in Raum 106 im ersten Stock der Stadtteilschule am Schulbergredder an einem großen Tisch, an dem auch noch vier Mitschülerinnen Platz genommen haben. Raquel (18) aus Portugal. Gina (17) aus Brasilien. Mobina (18) aus Afghanistan. Und Jannika (19) aus Sasel. Die fünf Freundinnen haben etwas gemacht, was so zuvor noch kein anderer an ihrer Schule gemacht hat: Sie haben 50 Mitschüler und Mitschülerinnen porträtiert, die aus 50 unterschiedlichen Nationen kommen. Und das Multikulti-Projekt, das ihr Lehrer Christian Tuchtfeldt vor einem Dreivierteljahr initiierte, nannten sie: „Wir sind Poppenbüttel“.

    Hamburger Schülerinnen haben 50 Interviews an der Europaschule Poppenbüttel geführt

    „Jeder hat seine eigene Geschichte“, sagt Raquel. Das ist es, was ihr während der vergangenen neun Monate, in denen sie so viele Interviews geführt hat, besonders klar geworden ist. Da ist David (19) aus Island, der den jährlichen Fischtag in seiner Heimat vermisst. Und Linh (15) aus Vietnam, die immer noch nicht glauben kann, dass man an Sonntagen in Deutschland nicht arbeiten muss.

    Die fünf Mädels haben mit Elvis (18) aus Togo gesprochen, der das Milcheis aus der Heimat vermisst. Mit Daniyal (12), der so gerne in Palästina wohnen würde, „wenn es dort keinen Krieg mehr gibt“. Und auch mit Esap (14) aus Eritrea, der mit dem Boot über das Mittelmeer nach Europa kam. „50 Leute waren auf dem Boot, auf der Überfahrt sind im Unterdeck zwei Menschen gestorben. Sie haben keine Luft gekriegt. Sie sind in weiße Leichentücher gehüllt worden.“

    50 Schüler und Schülerinnen, 50 Nationen, 50 Geschichten. Sie sind dramatisch, spannend, banal, interessant, traurig und lustig. „In der Mensa sieht man ja, dass nicht alle aus Deutschland kommen“, sagt Raquel, die selbst in Faro an der Algarve geboren ist. „Aber man kennt gar nicht die Geschichten von allen. Das wollten wir ändern.“

    Was die Hamburger Schüler an Deutschland schätzen und was sie vermissen

    Deswegen fragten sie, wie ihre Mitschüler nach Hamburg-Poppenbüttel gekommen sind, was ihre Mitschülerinnen an ihrer Heimat vermissen, was sie an Deutschland schätzen und wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Dazu fotografierte Christian Gelhausen, ein früherer Fotochef der „Sportbild“, alle Porträtierten. Natürlich unentgeltlich.

    Abdul (12) vermisst zwar das gambische Essen, will aber für immer in Deutschland bleiben. Das kann sich Kardo (19) nicht wirklich vorstellen. Er würde gern in der kurdischen Region im Irak leben. Semeera (17) findet das Wetter in Hamburg besser als in Indien, fühlt sich aber manchmal noch immer fremd in Deutschland. Filippos (15) möchte zurück nach Griechenland, Josipa (18) aus Bosnien will unbedingt hier bleiben.

    Deutsche Jannika möchte zukünftig am liebsten in Norwegen leben

    „Das Projekt hat mich emotional sehr berührt“, sagt Jannika, die Deutsche. Geboren in Hamburg, aufgewachsen in Hamburg – und noch immer wohnt sie natürlich auch in Hamburg. Doch ihre Zukunft sieht sie nicht unbedingt in der Hansestadt. „Ich würde gerne nach Norwegen“, sagt sie. Dort gebe es eine größere Geschlechtergerechtigkeit. Mehr Equal Pay, mehr Feminismus.

    Neben ihr sitzt Mobina. Geboren in Afghanistan, aufgewachsen im Iran und geflüchtet nach Deutschland. „Ich bin für die Freiheit in Deutschland, vor allem für Mädchen, sehr dankbar“, sagt die Ohlsdorferin. Ihr Plan für die Zukunft: Sie will International Business in Hamburg studieren.

    Am 29. November wird es eine große Ausstellung geben

    Das freiwillige Schulprojekt, das am 29. November (17 Uhr) in einer großen Ausstellung mündet, kann man natürlich nicht mit einer repräsentativen Umfrage vergleichen. Und doch zeigt es auf kreative Art und Weise, wie junge Menschen über Deutschland, Migration, Heimat und die politischen Fragen der Zeit denken.

    „Mich ärgert es sehr, wenn Politiker und Politikerinnen immer ganz allgemein über die ,Flüchtlingskrise‘ sprechen“, sagt Jannika. „Alle Geflüchteten haben ihre ganz eigene Geschichte, ihre ganz eigenen Gründe, warum sie ihre Heimat verlassen. Die einen würden gerne in Deutschland bleiben, die anderen möchten unbedingt zurück.“

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    In dem Projekt soll kein roter Faden bemüht werden. In Zeiten, in denen es mehr und immer brutalere Kriege wegen unterschiedlicher Anschauungen gibt, wollen die Schülerinnen dokumentieren, dass diese Unterschiede auch ganz anders aufbereitet werden können. „Wir sind alle anders. Das macht uns aus“, sagt Gina, deren vollständiger brasilianischer Name einen eigenen Artikel wert wäre: Virginia Umbelina Maximiliana Talmon Motta.

    Schulleiterin: 50 unterschiedliche Nationen wundervoll gewürdigt

    „Ich muss sagen, dass ich richtig stolz auf die Mädchen bin“, sagt Schulleiterin Dorothee Wohlers. „Sie haben es geschafft, die 50 unterschiedlichen Nationen an unserer Schule ganz wundervoll zu würdigen.“ Dabei wolle sie gar nicht verhehlen, dass auch ihre Stadtteilschule kein Paradies auf Erden sei. „Natürlich gibt es auch bei uns Konflikte, gerade jetzt durch die Ereignisse in Nahost“, sagt Wohlers. „Aber unsere Lehrer und Lehrerinnen versuchen, konstruktive Lösungen zu finden, ein Miteinander statt ein Gegeneinander.“

    Dieses Miteinander hat auch Hasan (19) schätzen gelernt. Geboren in Saudi-Arabien, aufgewachsen in Syrien, geflohen über die Türkei und die Balkanroute bis nach Deutschland. Hier fühle er sich endlich wie zu Hause. Sein Traum: Er will hier studieren, „weil mir das Lernen Spaß macht“. Sein Fazit: „Hamburg ist meine Perle.“