Hamburg. Abendblatt-Umfrage zeigt radikalen Stimmungsumschwung: Eine Dreiviertelmehrheit der Hamburger fordert weniger Migration.
Vor acht Jahren staunte die Welt über uns – in der Flüchtlingskrise 2015/16 zeigte Deutschland ein großes Herz und ein freundliches Gesicht. Rund 1,2 Millionen Flüchtlinge fanden Aufnahme in der Bundesrepublik, bis die Grenzschließungen auf dem Balkan und das Migrationsabkommen mit der Türkei den Zustrom eindämmten. Manches spricht dafür, dass das Land sich schon damals übernommen hat. Der weitaus größere Fehler aber war, dass seitdem nie vernünftig über Migration gesprochen werden konnte.
Das Thema wurde moralisch so aufgeladen, dass jede Kritik an der Willkommenspolitik und jede Warnung vor den Grenzen der Aufnahme als indiskutabel und bösartig galt. Und mit dem Erstarken der AfD wurde der Diskurs dann auch bösartig. Wer nicht in der rechten Ecke stehen wollte, schwieg lieber.
Zuwanderung: Schweigespirale hat lange jede rationale Debatte zum Thema Migration verhindert
Diese Schweigespirale hat bis zum Sommer jede rationale Debatte zum Thema Migration verhindert. Viele Medien haben das Thema Zuwanderung und Integration beharrlich gemieden, die Politik hat es abgesehen von den Schreihälsen von rechts beschwiegen.
Das ging so lange gut, bis es nicht mehr zu meiden und beschweigen war: Der wachsende Migrationsdruck, die offensichtlichen Integrationsdefizite und Zuspitzung der ökonomischen und politischen Krisen lässt nun die deutsche Gesellschaft in einem selten gesehenen Tempo nach rechts driften. Die Willkommenskultur ist Geschichte. Die aktuelle Abendblatt-Umfrage zeigt, dass drei Viertel der Hamburger für eine Obergrenze der Migration plädieren. 79 Prozent der SPD-Wähler und sogar 49 Prozent der Grünen-Wähler erheben diese Forderung. Damit wächst der Handlungsdruck auf den Senat und die Bundesregierung. Der Kanzler hat das erkannt – wenn auch spät.
Die Abschiebeoffensive wird kaum große Wirkung entfalten
Aber schnelle und einfache Lösungen wird es nicht geben – damit droht die Unzufriedenheit der Bürger weiter zu wachsen. Die angekündigte Abschiebeoffensive wird kaum große Wirkung entfalten. Viele Identitäten sind unklar, Länder weigern sich, ihre Bürger zurückzunehmen, die meisten Rückführungen scheitern. Oftmals werden dann ausgerechnet die Menschen abgeschoben, die kooperiert und sich integriert haben.
Auch die Obergrenze bleibt eine Schimäre. Sie klingt gut, ist aber unrealistisch: Hätte man, als mehr als eine Million Ukrainer vor dem russischen Angriffskrieg nach Deutschland flohen, nach 200.000 Flüchtlingen die Grenzen schließen sollen? Bei der derzeitigen Ausgestaltung des Asylrechts und fehlenden Grenzkontrollen mit Zurückweisungen werden sich angesichts der prekären Weltlage immer verzweifelte Menschen auf den Weg machen. Die Debatte verlangt Ehrlichkeit.
Zuwanderung: Deutschland muss an die Pull-Faktoren heran
Zugleich ist eine Zielzahl aber hilfreich – wer beispielsweise mit 200.000 Flüchtlingen kalkuliert, kann die Integration besser organisieren. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es einer großen Koalition der Willigen. Da so lange nichts passiert ist, muss nun schnell viel passieren: Alles muss auf den Prüfstand, was als so genannter Pull-Faktor dazu beiträgt, dass Menschen ohne Fluchtgrund nach Deutschland kommen.
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Dazu zählen Barleistungen wie der großzügige Familiennachzug, Anreize wie das Bürgergeld oder Sonderleistungen für junge Migranten. Das alles sind schmerzliche Einschnitte, die inzwischen aber eine breite Mehrheit der Deutschen fordert. Wir können nicht länger warten, weil sonst irgendwann radikale Kräfte noch radikalere Maßnahmen ergreifen. Wer das Asylrecht erhalten will und Einwanderung möchte, muss in der Lage sein, Grenzen zu definieren. Und zu schützen.