Hamburg. Die Republik ist Ziel vieler Einwanderer – und zunehmend überfordert. Je mehr Menschen kommen, desto eher scheitert Integration.

Deutschland ist ein seltsames Land: Bis zur Jahrtausendwende weigerte sich kaum ein mitteleuropäischer Staat so hartnäckig, sich der Realität als Einwanderungsland zu stellen wie die Bundesrepublik.

Zwar waren über Jahrzehnte Millionen Menschen in die Bundesrepublik eingewandert, aber die Politik hielt am Überkommenen fest: Es galt das Recht des Blutes (Ius sanguinis), Deutscher war man qua Abstammung oder man blieb im Regelfall Ausländer; Gastarbeiter sollten im Lande schuften, dann aber wieder verschwinden und Flüchtlinge am besten an den Grenzen abgewiesen werden.

Flüchtlinge: Welche Fehler Deutschland in der Migrationspolitik macht

„Deutschland ist kein Einwanderungsland“, hieß es nicht nur im schwarz-gelben Koalitionsvertrag von 1983, so wiederholen es auch Unionspolitiker bis ins neue Jahrtausend hinein. 1977 stand diese Formulierung sogar in den Einbürgerungsrichtlinien von Bund und Ländern.

Als infolge des Zusammenbruchs des Kommunismus und des Krieges in Jugoslawien die Zahl der Asylbewerber bis 1992 sprunghaft auf 438.000 Menschen stieg, reagierten Politik, Medien und Öffentlichkeit geradezu panisch.

1992 führten steigende Asylbewerberzahlen rasch zu einer Asylrechtsänderung

In großen Serien machte die „Bild“-Zeitung Stimmung gegen Zuwanderer: „Mit orientalischer Leidenschaft breiten Ausländer weitschweifige Lügenmärchen von angeblicher Verfolgung aus“, hieß es da oder: „Fast jede Minute ein neuer Asylant. Die Flut steigt – wann sinkt das Boot?“ Oder „Sensationelle Umfrage. Asyl: Grundgesetz ändern! 98 Prozent dafür.“

Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ veröffentlichte zwei Titelbilder, die heute aussehen wie rechtsradikale Fälschungen: Eines zeigte unter der Zeile „Flüchtlinge. Aussiedler. Asylanten. Ansturm der Armen“ ein überquellendes Boot, das andere Cover schnauzbärtige Männer, die einen Grenzposten stürmen: „Asyl. Die Politiker versagen.“ Die Politik lieferte sich ein rhetorischen Überbietungswettbewerb, zugleich gab es eine Terrorwelle gegen Migranten – in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen. 1992 wurde das Asylrecht mit den Stimmen von Union, FDP und SPD amputiert und Leistungen für Asylbewerber radikal zusammengestrichen.

Inzwischen sehen manche Deutschland eher als „moralische Großmacht“

Nur wenige Jahrzehnte später ist Deutschland nicht nur Einwanderungsland, sondern präsentiert sich als „moralische Großmacht“: Offener als andere werden Flüchtlinge aufgenommen. 2015 brach Deutschland aus Gründen der Humanität sogar die gültigen europäischen Regeln und winkte die in Ungarn gestrandeten Migranten durch. Im Ausland rieb man sich verwundert die Augen: Die Bundesrepublik benehme sich wie ein „Hippie-Staat, der nur von Gefühlen geleitet wird“, zürnte damals der britische Politologe Anthony Glees. Statt nur mit dem Herzen, müsse man auch mit dem Hirn handeln, forderte er.

Während frühe liberale Einwanderungsländer wie die Niederlande, Dänemark oder Schweden die Zuwanderungsregeln längst drastisch verschärft haben, ist die Debatte hierzulande moralisch aufgeladen. Bei den Sozialleistungen für Zuwanderer ist Deutschland in Europa spitze. Bis heute bleiben die Deutschen Bremser, wenn es in Europa um restriktivere Maßnahmen gegen Flüchtlinge geht. In Brüssel wächst der Unmut über die Blockade der Berliner Ampel, die Olaf Scholz nun mit seinem Machtwort lösen will. Wer grünen Koalitionspolitikern lauscht, dürfte daran zweifeln, dass sich schnell etwas ändert. Warum hat sich die Republik so gewandelt? Und vor allem wann?

Merkels Großzügigkeit 2015 stellt sich immer mehr als Fehler heraus

„Viele klassische Einwanderungsländer sind deutlich restriktiver geworden, Deutschland offener“, konstatiert Prof. Dietrich Thränhardt, Migrationsexperte und langjähriger Professor an der WWU Münster. 2015 habe vieles verändert. „Die großzügige Aufnahme hat damals Deutschland ein neues Image gegeben, zugleich aber weltweit die Wahrnehmung befördert, in Deutschland werde man besonders herzlich aufgenommen.“

In sozialen Netzwerken teilten Schlepper bewusst Legenden, wie großzügig Deutschland sei. „Ich will die Aufnahme der Flüchtlinge im September 2015 aus Ungarn ausdrücklich nicht kritisieren - das war humanitär notwendig“, sagt der Migrationsexperte. „Es war aber ein Fehler, nicht schnell wieder zu geordneten Verhältnissen zurückzukehren.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) lässt sich am 10. September 2015 nach dem Besuch einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Berlin-Spandau für ein Selfie zusammen mit einem Flüchtling fotografieren. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) lässt sich am 10. September 2015 nach dem Besuch einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Berlin-Spandau für ein Selfie zusammen mit einem Flüchtling fotografieren. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa © picture alliance / dpa | Bernd von Jutrczenka

Damals habe die Republik ein wenig das Notwendige aus dem Blick verloren: „Wir hatten damals eine Einigkeit von der BILD bis zur taz. Wir haben eine Tendenz zur Konformität in den Medien – bei solchen Ereignissen folgen alle dem gleichen Strom.“ Tatsächlich trommelten damals alle für das „Refugees Welcome“, in vorderster Front bizarrerweise die „Bild“ unter dem damaligen Chefredakteur Julian Reichelt, der heute als rechtspopulistischer You-Tuber agitiert.

Medienanalysen zeigten später, dass die BBC 2015 eher Bilder von wütenden männlichen Migranten in Ungarn zeigte, das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland hingegen schutzbedürftige Frauen und Kinder. Trotz alledem: Der gesellschaftliche Konsens und die Hilfsbereitschaft waren damals groß.

Mit der Migrationskrise begann der Aufstieg der AfD

In diesen Monaten wurde zugleich das Fundament für den Aufstieg der AfD gelegt. Eigentlich war die Partei der Gegner der Euro-Rettungspolitik gewaltig ins Trudeln geraten; erst nach der Merkelschen Politik des „Wir schaffen das“ konnte sich die Partei oberhalb der Fünf-Prozent-Hürde etablieren. Europaweit ist der Aufstieg der Rechtspopulisten eng mit dem Thema Einwanderung verknüpft. Sie profitieren von der Unsicherheit, einer Angst vor Überfremdung. Die Bilder von großen Gruppen, die sich 2015 über die Grenzen bewegen, haben sich tief in manche Hirne eingebrannt: Diese Menschen hätten Angst vor der ungeordneten Zuwanderung, sagt Thränhardt. „Das Gefühl, dass der Staat die Dinge nicht im Griff hat, ist ein zentrales Motiv, das Rechtspopulisten in die Hände spielt.“

Mit den steigenden Zuwanderungszahlen, wie in den Neunzigerjahren vor allem über das Asylsystem, wachsen die Zustimmungsraten für die AfD. Umfragewerte von 20 Prozent und mehr haben direkt mit der Migration zu tun: Zusätzlich zu den rund 1,087 Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine dürften im laufenden Jahr noch 300.000 bis 400.000 Asylbewerber hinzukommen. Längst ist das Land an der Grenze des Möglichen angekommen, was die Unterbringung, Beschulung, Versorgung und Integration betrifft - oder jenseits davon. Die Infrastruktur, Wohnungen, Bildungseinrichtungen, Krankenhäuser, Verkehrssysteme sind auf rund 81 Millionen Menschen ausgelegt. Inzwischen leben 84,5 Millionen Menschen in Deutschland, Tendenz weiter steigend.

Migration zieht Migration nach sich

Dass Deutschland heute ein Sehnsuchtsort für viele Migranten ist, hat mit der Geschichte der Zuwanderung zu tun. Migration zieht Migration nach sich - nicht nur Freunde und Verwandte, sondern eben auch Landsleute, die sich in ihrer Community einen einfacheren Start in der Fremde versprechen. So wurde Hamburg beispielsweise durch Flüchtlinge zu einer Hauptstadt der Afghanen. Derzeit kommt bundesweit jeder siebte Zufluchtsuchende aus Afghanistan, in Hamburg ist es fast jeder Dritte. Inzwischen leben an der Elbe mehr als 30.000 Afghanen, eine der größten Gemeinschaften in Europa. Diese Einwanderung birgt Herausforderungen: Zuletzt waren 6700 Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, mehr als 15.000 bezogen Transferleistungen.

Arbeit aber ist die entscheidende Frage für Integration, sagt Thränhardt. Nur habe sich die Zuwanderung nach Deutschland seit einigen Jahren abgekoppelt von ökonomischen Anforderungen. Dies sei unter Integrationsaspekten beunruhigend. Besonders eklatant fällt dies bei der Flucht der Menschen aus der kriegsverheerten Ukraine auf: „Wir sehen ein europäisches Gefälle. Deutschland, Österreich und die Schweiz tun sich sehr schwer, die ukrainischen Flüchtlinge in Arbeit zu bringen.“ In Dänemark arbeiteten 74 Prozent der erwachsenen Ukrainer, in Polen und Tschechien rund zwei Drittel, in Deutschland nur 18 Prozent.

Interessant ist die euopaweite Verteilung der ukrainischen Flüchtlinge: Bezogen auf die Bevölkerung ziehen viel mehr Ukrainer in die Tschechische Republik als nach Deutschland. Dort machten sie inzwischen 3,2 Prozent der Bevölkerung aus, hierzulande nur 1,3 Prozent. „Es geht weniger um die Höhe der Sozialleistungen. Offenbar drängt es die Menschen dorthin, wo sie schnell und gut Arbeit finden.“

Deutschland tut sich schwer, Flüchtlinge schnell in Jobs zu bringen

Gerade das misslingt zu oft. „Das liegt an der Überregulierung in Deutschland und der Orientierung an den Asylverfahren. Dasselbe Personal kümmert sich, die Aufnahmeverfahren sind kompliziert und es dauert lange, bevor man die Bescheinigungen hat.“ Die Bundesagentur für Arbeit sei mehr mit der Auszahlung des Bürgergeldes beschäftigt als mit der Vermittlung von Arbeit. Und auch viele Unternehmen scheiterten wegen der Bürokratie an einer Anstellung von Flüchtlingen.

Thränhardt kritisiert auch die Datenschutzpolitik, die eine rasche Abwicklung behindert. Zudem habe das Bundesverfassungsgericht durch einige Urteile die Prozesse zusätzlich verkompliziert. „Flüchtlingen stehen dieselben Sozialleistungen zu wie Einheimischen - so hat man das ganze komplizierte System dann auf die Ukrainer übertragen. Andere Staaten waren viel flexibler.“ Es gehe nicht um die Höhe der Leistungen, die in Dänemark sogar großzügiger sind, sondern um eine pragmatische und schnelle Abwicklung.

Schlüssel für die Integration sind Arbeit und soziale Kontakte. Gerade bei der Massenmigration blieben viele Flüchtlinge über Monate in großen Aufnahmelagern. „So wird Integration erschwert. Es kommt gerade auf die ersten Wochen und Monate an.“

„Wir dürfen diese Menschen nicht zum Nichtstun verurteilen. Flüchtling ist kein Beruf.“

Die Länge der Asylverfahren, die hierzulande zwei Jahre dauern können, wirken sich ebenfalls negativ aus: „Sie machen die Menschen inaktiv, man gewöhnt sich an Transferzahlungen.“ Er kritisiert eine „gesellschaftliche Übereinstimmung, dass Flüchtlinge per se hilfsbedürftig sind“. Die eine Seite fordere Arbeitsverbote, um Migranten abzuschrecken; die andere Seite der Flüchtlingshelfer bevormunde die Menschen. Thränhardt plädiert für einen pragmatischen Ansatz und zitiert den langjährigen Handwerkspräsidenten Hans-Peter Wollseifer, der die Integration in den Arbeitsmarkt anmahnte: „Wir dürfen diese Menschen nicht zum Nichtstun verurteilen. Flüchtling ist kein Beruf.“

Die Folgen sind fatal: Die mangelnde Vermittlung in Arbeit erschwert nicht nur die Integration, sondern unterhöhlt auch die gesellschaftliche Aufnahmebereitschaft. Diese geht angesichts des Zusammenfallens der Massenflucht aus der Ukraine und steigender Asylbewerberzahlen ohnehin zurück.

In der Vergangenheit war man schon einmal weiter: In der Gastarbeiter-Ära

Dabei kann Migration nicht nur Problem, sondern eine Erfolgsgeschichte sein. Thränhardt sieht die Gastarbeiter-Historie deutlich positiver, als sie heute vielfach wahrgenommen wird. „Die Menschen hatten damals sofort Arbeit, oft schon am zweiten Tag. Und die Unternehmen stellten ihnen Unterkünfte zur Verfügung.“ Das seien zwar oft nur Baracken gewesen, man dürfe diese Wohnsituationen aber nicht mit der heutigen Lage vergleichen, sondern mit der Situation der Zeit. Auch Integration habe damals durchaus funktioniert - zumal die Gastarbeiter wohlwollend gesehen wurden. „Sie trugen zur Arbeit bei, und die Menschen wussten, dass sie ihren Teil zum Wiederaufbau beitragen.“ Mit der wachsenden Arbeitslosigkeit und Arbeitsverboten brach diese Wahrnehmung. „Diese Verbote waren immer und sind bis heute ein Kardinalfehler für die Integration.“

Er zieht eine deutliche positivere Bilanz von Deutschland als Einwanderungsland. „Deutschland war schon in der Sechzigerjahren ein sehr offenes Land für Zuwanderung“, sagt der Migrationsexperte. Er sieht darin eine Kontinuität, waren doch schon mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges Millionen Menschen gekommen. Es folge die Gastarbeitermigration, mit der insgesamt 14 Millionen Menschen nach Deutschland kamen, von denen aber rund elf Millionen das Land wieder verließen. „Diese Migranten hatten sofort Arbeit, haben die Ärmel hochgekrempelt und die Arbeiten verrichtet, die die Deutschen oft nicht mehr machen wollten.“

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Genau hier könnte der Schlüssel liegen, die Zuwanderung zu entemotionalisieren und zugleich die überforderten Länder und Kommunen zu entlasten. Auf der einen Seite müssten legale Zuwanderungswege geöffnet werden, illegale Migration hingegen erschwert werden. Gerade letzteres erfordert auch unpopuläre und harte Maßnahmen. Ob die Regierung Scholz dazu willens uns fähig ist? Ein Kontrollverlust wie 2015 „darf uns nicht wieder passieren, dafür müssen wir Vorsorge treffen – beispielsweise indem wir dazu kommen, dass die EU gemeinsam ihre Außengrenzen wirksam schützt und zugleich legale Wege der Zuwanderung ... öffnet.“ Das sagt nicht irgendwer – sondern Olaf Scholz in seinem Buch „Hoffnungsland“.