Hamburg. Neuer Kommentar zu allen 77 Artikeln: 25 Fachleute erklären auch jüngste Änderungen. Kurzfristig wurden die Druckmaschinen angehalten.

Vor ein paar Monaten war es eine heikle und politisch spannende Frage, was eigentlich passiert, wenn gegen ein Senatsmitglied ein Strafverfahren eröffnet wird. Entlassung? Aber die Unschuldsvermutung? Also eher Fortsetzung der Amtsgeschäfte bis zu einem rechtskräftigen Urteil?

Damals sah es eine Weile so aus, als könnte die Staatsanwaltschaft im Rahmen des Untreue- und Betrugsverfahrens gegen den früheren Grünen-Politiker Michael Osterburg auch ein Ermittlungsverfahren gegen Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) eröffnen, die frühere Partnerin Osterburgs. Es kam bekanntlich anders.

Antworten auf derart brisante, aber auch sehr grundsätzliche rechtliche Fragen liefert der neue „Handkommentar zur Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg“, der im Nomos-Verlag erschienen ist (1673 Seiten, 179 Euro). Es ist ein Mammutwerk, das alle 77 Artikel der Verfassung ausführlich behandelt und auch deren erst vor Kurzem beschlossene Ergänzungen etwa zur Gewährleistung von bezahlbarem Wohnraum oder das Bekenntnis zum Ehrenamt berücksichtigt. Der Kommentar enthält aus der Feder von Ex-Justizstaatsrat Hans-Peter Strenge auch einen Streifzug durch die Hamburger Verfassungsgeschichte, die mit dem „Langen Rezeß“ von 1529 zwischen dem Rat – wie der Senat bis 1860 hieß – und der Erbgesessenen Bürgerschaft begann.

Hamburger Verfassung: 25 Juristen und Juristinnen kommentieren und interpretieren alle 77 Artikel

Vor rund 30 Jahren hatte der damalige Senatsjustiziar Klaus David mit einem Kommentar zur Hamburger Verfassung gewissermaßen ein Standardwerk geliefert. „Es war an der Zeit für eine aktuelle juristische Kommentierung der geltenden Verfassung“, sagen Steffen Jänicke und Prof. Kai-Oliver Knops, die Co-Herausgeber des neuen Kommentars. In den gut 20 Jahren seit Erscheinen der aktuellen zweiten Auflage des „David“ habe der Verfassungsgeber Bürgerschaft „nicht nur Teile der Verfassung, also einzelne Artikel, geändert, weiterentwickelt und ergänzt. Auch die Rechtsprechung und Betrachtung durch die Wissenschaft hat sich weiterentwickelt“.

Jänicke ist Justiziar im öffentlichen Dienst der Stadt und derzeit als Leiter des Arbeitsstabs in den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss Cum-Ex abgeordnet. Knops lehrt Zivil- und Wirtschaftsrecht an der Universität Hamburg. Die beiden Sozialdemokraten hatten die Idee, und sie scharten 23 Wissenschaftler und Rechtspraktiker um sich, die die einzelnen Abschnitte der Verfassung ausführlich kommentieren und interpretieren. Unter den Autoren sind neben mehreren Hochschullehrern Birgit Voßkühler, die Präsidentin des Hamburgischen Verfassungsgerichts, Justizstaatsrat Holger Schatz sowie Landeswahlleiter Oliver Rudolf.

Hamburger Verfassung: Erster Bürgermeister hat erheblichen Ermessensspielraum

Und was sagt die Verfassung nun zum Fall eines Strafverfahrens gegen ein Senatsmitglied? Nicht viel. In Fragen der Berufung und Entlassung der Senatorinnen und Senatoren sowie über deren rechtliche Stellung und Bezüge verweist Artikel 41 der Verfassung auf das Senatsgesetz. Dort heißt es in Artikel 7: „Ist gegen eine Senatorin oder einen Senator ein Strafverfahren eingeleitet, so kann die Erste Bürgermeisterin oder der Erste Bürgermeister die Senatorin oder den Senator bis zur rechtskräftigen Erledigung des Strafverfahrens unter Fortzahlung der Bezüge von den Amtsgeschäften ausschließen.“

Kann, nicht muss. Der Bürgermeister hat also einen erheblichen, auch politischen Ermessensspielraum. „Als eingeleitet gilt ein Strafverfahren, sobald ein Ermittlungsverfahren aufgenommen worden ist. Voraussetzung hierfür ist das Vorliegen eines Anfangsverdachts. In dieser Phase prüft die Staatsanwaltschaft, ob ein hinreichender Tatverdacht besteht und somit genügender Anlass, öffentliche Anklage beim Gericht zu erheben“, erläutert der Kommentar, den Ex-Justizstaatsrat Nikolas Hill geschrieben hat.

Was passiert, wenn gegen den Bürgermeister ein Ermittlungsverfahren läuft?

Selbst wenn der Erste Bürgermeister das Senatsmitglied wegen eines Ermittlungsverfahrens von den Amtsgeschäften entbindet, lässt das Gesetz zu, dass der Senator oder die Senatorin weiterhin die Bezüge erhält. Diese Regelung, so der Verfassungskommentar, folge „erkennbar dem Rechtsgedanken der Unschuldsvermutung“. Der Handlungsspielraum des Bürgermeisters ende jedoch „spätestens mit der rechtskräftigen Verurteilung des Senatsmitglieds“.

Es gibt eine (weitere) interessante Leerstelle. „Nicht geregelt ist hingegen der Fall, dass der Erste Bürgermeister bzw. die Erste Bürgermeisterin selbst von der Einleitung eines Strafverfahrens betroffen ist. Hier muss er bzw. sie die politischen und rechtlichen Konsequenzen für sich selbst verantworten“, heißt es im Kommentar. Diesen Fall hat es – zum Glück – noch nicht gegeben.

Auch die jüngsten Verfassungsänderungen sind bereits berücksichtigt

Die Hamburgische Verfassung, am 1. Juli 1952 verabschiedet, hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert. Mit der grundlegenden Reform von 1996 etwa sind plebiszitäre Elemente und damit die direkte Demokratie eingefügt und später ausgebaut worden. Das Hamburger „Grundgesetz“ gilt in manchen Bundesländern als Modell auch bei anderen zentralen Zukunftsfragen wie etwa beim Datenschutzrecht, dem Haushaltsrecht (mit der doppelten Buchführung, der „Doppik“) und dem Wahlrecht (ab 16 Jahren).

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Die Corona-Pandemie, die auch zur Schließung von Bibliotheken führte, hat die Veröffentlichung des Verfassungskommentars verzögert, aber auch aktueller gemacht. „Wir waren fast fertig, als wir Anfang des Jahres erfuhren, dass die Präambel der Verfassung ergänzt werden sollte“, sagt Herausgeber Jänicke.

So wurden die Druckmaschinen noch einmal angehalten, damit auch der mit großer Mehrheit erfolgte Beschluss der Bürgerschaft, neue Staatsziele in die Verfassung aufzunehmen, kommentiert und interpretiert werden konnte: die staatliche Verpflichtung, sich gegen Rassismus und Antisemitismus sowie „jede andere Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ einzusetzen und der „Verherrlichung und Verklärung des Nationalsozialismus“ entgegenzustellen.