Hamburg. Fast 70 Jahre nach der Verabschiedung: Soll die Präambel um ein Bekenntnis gegen Antisemitismus ergänzt werden?

Die Stimmung in der Bürgerschaft war durchaus feierlich und der historischen Stunde angemessen. Die Bedeutung des Tages zeigte sich auch darin, dass nach der Sitzung – es gab nur einen Tagesordnungspunkt – auf dem Rathausmarkt die Hamburg-Flaggen gehisst wurden, während Senatsmitglieder und Abgeordnete vom Balkon des Rathauses huldvoll und zufrieden auf die Schaulustigen und eine Parade der behelmten Polizeibeamten hinabblickten.

Am 4. Juni 1952 – vor fast genau 70 Jahren – verabschiedete die Bürgerschaft mit sehr großer Mehrheit gegen die Stimmen von drei Abgeordneten der KPD die Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg – das zweite demokratische Grundgesetz der Stadt nach der Verfassung von 1921. Hamburg war ein Nachzügler, das letzte der Länder der alten Bundesrepublik, das sich eine Verfassung gab. Vier Jahre und geprägt von zum Teil erbittertem Streit hatte es von der Vorlage des ersten Entwurfs des Senats bis zur Verabschiedung gedauert.

Hamburg gab sich als letztes Bundesland eine Verfassung

Der Sozialdemokrat Max Brauer wäre kein großer Hamburger Bürgermeister gewesen, wenn er nicht imstande gewesen wäre, das vermeintliche Manko der späten Entscheidung – das Grundgesetz der Bundesrepublik war schon seit drei Jahren in Kraft – in einen Vorzug zu verwandeln vermocht hätte. „Ich glaube, wir waren richtig beraten, zunächst das Grundgesetz sich auswirken zu lassen und unsere Verfassung dann einzufügen und einzubauen in den demokratischen Rahmen, den dieses Grundgesetz für Westdeutschland geschaffen hat“, sagte Brauer zum Auftakt der abschließenden zweiten Lesung des Verfassungsentwurfs in der Bürgerschaft.

Mit dem Hinweis auf kluges Abwarten wollte es Brauer nicht bewenden lassen. Die neue Verfassung sei „nicht der Ausgangspunkt, auf den wir die staatsrechtliche Konstruktion unseres Landes stellen, sondern sie kommt nunmehr als eine Krönung unseres rechtsstaatlichen Aufbaus“. Und der Sozialdemokrat machte deutlich, welches gesellschaftliche Entwicklungspotenzial er sah: „Unsere neue Verfassung gibt die Möglichkeit der sozialen und kulturellen Neugestaltung innerhalb der gesetzlichen Grenzen, die im demokratischen Prozess gewonnen werden sollen.“

Auf Präambel waren Verfassungsväter besonders stolz

In den reformfreudigen und fortschrittsoptimistischen Worten Brauers schwingt noch die Kontroverse um die Ausrichtung der neuen Verfassung mit. Teile der vorherrschenden Sozialdemokratie hatten die „Vergesellschaftung von Grund und Boden“ als eine Art Staatsziel in das Grundgesetz schreiben wollen, während die bürgerlichen Kräfte von CDU und FDP auf eine liberalere und wirtschaftsfreundliche Ausgestaltung drängten. Am Ende einigten sich beide Lager auf einen Satz in der Präambel der Verfassung, der noch heute gültig ist, aber etwas hölzern und kryptisch wirkt: „Um die politische, soziale und wirtschaftliche Gleichberechtigung zu verwirklichen, verbindet sich die politische Demokratie mit den Ideen der wirtschaftlichen Demokratie.“

Überhaupt die Präambel: Auf diese den Artikeln der Verfassung vorangestellten Sätze waren die vielen Verfassungsväter und wenigen -mütter besonders stolz. „Dass wir die Zeichen der Zeit erkannt haben, offenbart sich in der Präambel“, sagte Max Brauer in seiner Rede vor der Bürgerschaft selbstbewusst und fügte hinzu, dass die Präambel den „Geist der Verfassung“ ausdrücke. Heute sind vor allem die ersten zwei Sätze präsent und werden häufiger zitiert: „Die Freie und Hansestadt Hamburg hat als Welthafenstadt eine ihr durch Geschichte und Lage zugewiesene besondere Aufgabe gegenüber dem deutschen Volke zu erfüllen. Sie will im Geiste des Friedens eine Mittlerin zwischen allen Erdteilen und Völkern der Erde sein.“

Präambel: Kein Hinweis auf nationalsozialistische Gewaltherrschaft

Nur zweimal wurde die Präambel in den zurückliegenden 70 Jahren verändert, das heißt ergänzt. „Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen unter dem besonderen Schutz des Staates“, wurde 1986 eingefügt und 2020 um den Satz ergänzt: „Insbesondere nimmt die Freie und Hansestadt Hamburg ihre Verantwortung für die Begrenzung der Erderwärmung wahr.“ Das spricht insgesamt für die generationenübergreifende Gültigkeit der Festlegungen und dennoch: Die Präambel weist eine bemerkenswerte Leerstelle auf: Obwohl die Verfassung wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geschrieben wurde, gibt es keinen Hinweis auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft – übrigens im Gegensatz zu vielen anderen Landesverfassungen.

Damals mag verständlich gewesen sein, dass angesichts der allen Menschen gegenwärtigen persönlichen Verluste und Zerstörungen durch den Nazi-Terror der Blick in eine bessere Zukunft gerichtet war. Aber ist nicht gerade in Zeiten antisemitischer Attentate und einer wachsenden Zahl antisemitischer Straftaten 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Ergänzung der Präambel im Sinne eines Eintretens gegen Antisemitismus sinnvoll, ja sogar notwendig? Zumal der Auftrag zur Erinnerung an die NS-Verbrechen umso wichtiger wird, als es bald keine Zeitzeugen mehr geben wird.

Drei Abgeordnete deckten eine Leerstelle der Verfassung auf

Es ist das Verdienst dreier Bürgerschaftsabgeordneter – André Trepoll (CDU), Mathias Petersen (SPD) und Farid Müller (Grüne) – auf den Missstand aufmerksam gemacht und eine parlamentarische Initiative zur Beseitigung der Leerstelle gestartet zu haben. Vor einem Jahr forderten die drei gewissermaßen interfraktionell, „ein klares Bekenntnis zur Bekämpfung des Nationalsozialismus, Antisemitismus und Extremismus als Staatsziel“ in die Präambel aufzunehmen, wie Trepoll es ausdrückte. Seitdem ist nicht allzu viel geschehen.

Das liegt zum einen daran, dass es für den parlamentarischen Betrieb sehr ungewöhnlich ist, dass einzelne Abgeordnete noch dazu aus unterschiedlichen Fraktionen mit einem derart grundsätzlichen Vorstoß vorpreschen. Dafür gibt es schließlich Fraktionen und in ihnen Arbeitskreise, die sich schnell auf den Schlips getreten fühlen …

Breite Zustimmung für eine Verfassungsergänzung, aber...

Andererseits liegt die Eingriffsschwelle für eine Verfassungsänderung berechtigterweise hoch. Immerhin: Nach einer Expertenanhörung im Verfassungsausschuss der Bürgerschaft Anfang Januar dieses Jahres durften sich Trepoll, Petersen und Müller bestätigt fühlen. Die Historiker und Juristen waren fast einhellig der Ansicht, dass eine Ergänzung der Präambel politisch sinnvoll und staatsrechtlich statthaft ist.

In einer ersten Auswertung der Anhörung im Verfassungsausschuss am Donnerstag dieser Woche zeigte sich, dass es grundsätzlich eine breite Zustimmung für eine Verfassungsergänzung gibt. Allerdings gibt es kontroverse Ansichten darüber, welche Begriffe genau verwendet werden sollen. Eins ist schon jetzt klar: Der Satz, den die drei Abgeordneten in die Präambel einfügen wollten, wird nicht die Lösung sein. Aber das muss deren Anliegen nicht schmälern.

Grüne und Linke gegen die Verwendung des Ex­tremismus-Begriffs

„Es ist die Pflicht aller staatlichen Gewalt, der Erneuerung und Verbreitung faschistischen Gedankenguts, der Verherrlichung oder Verklärung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems sowie antisemitischen und extremistischen Bestrebungen gleich welcher Art und Motivation entgegenzuwirken und die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu wahren.“ So lautet der Formulierungsvorschlag von Trepoll, Petersen und Müller für einen neuen achten Satz der Präambel.

Mehrere Wissenschaftler warnten vor einer Verwendung des ihrer Ansicht nach zu unscharfen und problematischen Begriffs „Extremismus“. Andere schlugen die Einfügung eines Kampfes gegen Rassismus als Staatsziel vor. Und: Ein längst überfälliges Bekenntnis zu Europa fehle der Verfassung außerdem. Die Bedenken der Experten fielen auf einen fruchtbaren Boden.

Vor allem Grüne und Linke sind entschieden gegen die Verwendung des Ex­tremismus-Begriffs. Dahinter steht die Sorge, dass das Wort auf die sogenannte Hufeisentheorie hinweist, die Rechts- und Linksextremismus gleichsetzt. Diese Sichtweise lehnen Politikerinnen und Politiker des linken Spektrums ab. Die Grünen haben schon deutlich gemacht, dass sie auf einer Streichung des Begriffs Extremismus bestehen, der gerade den Christdemokraten wichtig ist. Umgekehrt schlagen die Grünen die Aufnahme des Kampfes gegen Rassismus als Staatsziel vor. Auf überparteiliche Akzeptanz stößt dagegen die Idee, dem Bekenntnis zu Europa Verfassungsrang zu verleihen.

Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus

Erstmals hat sich jetzt Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne), qua Amt auch für Verfassungsfragen zuständig, zu der Debatte geäußert. „Ich finde es gut und wichtig, dass die Hamburgische Bürgerschaft sich in einem parlamentarischen Prozess über den Reformbedarf der Präambel der Hamburgischen Verfassung austauscht“, sagte Gallina dem Abendblatt. Auf diese Weise könne eine Neubesinnung auf die gemeinsamen Werte und die Schaffung eines modernen Leitbilds erfolgen, das in der Verfassung Ausdruck findet. „Insbesondere die Verbundenheit Hamburgs mit Europa und der Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus gehören für mich in ein solches Leitbild“, sagte die Senatorin.

Die Obleute der Fraktionen im Verfassungsausschuss sollen nun zusammen mit den drei Initiatoren einen Formulierungsvorschlag erarbeiten. Leicht wird es nicht, wenn sich CDU, SPD, Grüne und Linke zusammenfinden sollen. Aber der Streit muss sich ja nicht gleich über vier Jahre hinziehen wie vor der Verabschiedung der Verfassung vor 70 Jahren. Aus Trepolls Wunsch, die Präambelergänzung zum Verfassungsjubiläum am 4. Juni zu beschließen, wird aber wohl nichts. Die nächste reguläre Sitzung des Verfassungsausschusses ist erst am 9. Juni. Und dann käme erst noch die Beratung des Plenums der Bürgerschaft.