Hamburg. Das Erzbistum Hamburg legt erstmals einen jährlichen Bericht der Stabsstelle Prävention und Intervention vor – ohne die Betroffenen.
Alle, die an diesem Donnerstagmorgen zum Pressegespräch des katholischen Erzbistums Hamburg geladen waren, trafen am Eingang einen Mann mit Maske. Er stand vor dem Eingangsportal des Gebäudes Am Mariendom 4 und trug als Erkennungsmerkmal den Schriftzug „Betroffener“. Es geht um sexuellen Missbrauch in der Kirche.
Ganz ohne ihn und andere „Betroffene“ startete danach in der ersten Etage die Vorstellung des „Tätigkeitsberichts der Stabsstelle Prävention und Intervention von 2011 bis 2023“ im Erzbistum Hamburg. Im Klartext: Es ist der erste jährliche Bericht über die Konsequenzen aus dem sexuellen Missbrauchsskandal in Deutschlands nördlichstem Erzbistum mit den Zielen der Prävention, Intervention und Aufarbeitung. Erzbischof Stefan Heße hatte die regelmäßigen Tätigkeitsberichte im vergangenen Jahr angekündigt.
Betroffene sexuellen Missbrauchs im Erzbistum Hamburg: „Resonanzgespräch“ geplant
Und Generalvikar Pater Sascha-Philipp Geißler hatte nun zu dem Termin geladen und entschieden, die öffentliche Vorstellung des Berichts ohne den 2022 gegründeten Betroffenenrat Nord durchzuführen. Stattdessen sei einige Tage später mit ihm ein „Resonanzgespräch“ geplant.
Der Bericht dokumentiert, mit welcher Ernsthaftigkeit die katholische Kirche auf die Missbrauchsskandale reagiert. Beispielsweise können betroffene Personen seit 2011 eine Leistung zur Anerkennung des erlittenen Leids beantragen.
Seit 2021 legt eine bundesweite tätige unabhängig Kommission in Bonn die Leistungshöhe fest – regionale Bistümer haben darauf keinen Einfluss. „Das Erzbistum Hamburg hat bislang fast eine Million Euro an Betroffene gezahlt“, betonte Generalvikar Geißler.
Missbrauch im Erzbistum Hamburg: Es geht um 272 Fälle
Seit dem Jahr 2011 liegen dem Erzbistum Hamburg bislang 79 Erstanträge und 22 Folgeanträge vor, mit denen die erste Zahlung noch einmal überprüft werden soll. Wie ein Sprecher des Betroffenenrats Nord dem Abendblatt sagte, liege die Zahlung pro betroffener Person im Erzbistum Hamburg bei durchschnittlich 17.000 Euro. In anderen Bistümern sei der Betrag wesentlich höher, teilweise doppelt so hoch, sagte er.
Die Zahl der Vorfallsmeldungen bei sexuellem Missbrauch im Zeitraum von 2011 bis 2022 beziffert das Erzbistum Hamburg auf 272. Im vergangenen Jahr waren es 24 Meldungen. Sieben davon betrafen Vorwürfe sexualisierter Gewalt an Kindern, Jugendlichen und schutz- und hilfsbedürftigen Erwachsenen durch Kleriker, Ordensangehörige und andere haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende im kirchlichen Dienst. Fünf dieser Fälle, so heißt es in dem Bericht weiter, beziehen sich auf Fälle, die etwa 50 Jahre zurückliegen.
Sexualisierte Gewalt: Zwei Meldungen betreffen aktuelle Fälle
Zwei Meldungen betreffen aktuelle Vorfälle in zwei kirchlichen Einrichtungen, betonten Monika Stein und Katja Kottmann von der Stabsstelle Prävention und Intervention/Aufarbeitung. Weitere Angaben wurden nicht gemacht. Bei allen eingegangenen Vorfallsmeldungen handele es sich sowohl um Vorwürfe sexualisierter Gewalt an Kindern, Jugendlichen und schutz- und hilfsbedürftigen Erwachsenen als auch um Übergriffe, die sich unter Kindern und Jugendlichen ereigneten.
Während das Bistum Aachen kürzlich die Namen von Tätern veröffentlicht hatte, lehnte der Hamburger Generalvikar ein solches Vorgehen mit Rücksicht auf die Betroffenen ab. Bei einer Veröffentlichung könne ihre Anonymität nicht mehr gewährleistet werden.
Im Zuge der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt durch Priester und andere kirchliche Beschäftigte hatte das Bistum Aachen die Namen von 53 Tätern und mutmaßlichen Tätern im Internet veröffentlicht. Man wolle Betroffenen Mut machen, sich mitzuteilen, sagte Bischof Helmut Dieser. „Mit der Nennung der Namen gehen wir dabei weiter voran.“ Das katholische Bistum Aachen sei das erste in Deutschland, das diesen Schritt geht.
Prävention in der Kirche: 14.000 Personen im Erzbistum Hamburg geschult
Als Konsequenz aus den Missbrauchsfällen im Erzbistum Hamburg gibt es seit 2022 die Stabsstelle Prävention, Intervention und Aufarbeitung. Um die Prävention zu verbessern, wurden seit 2012 rund 14.000 Personen geschult oder weiterqualifiziert. Generalvikar Geißler zeigt sich erfreut über diese Entwicklung: „Aus meiner Sicht bedeutet dies, dass die Sensibilisierung für sexualisierte Gewalt im Erzbistum Hamburg in dieser Zeit deutlich gewachsen ist.“
Dazu kommen einzelne Schutzkonzepte in den kirchlichen Einrichtungen. Wie Referatsleiterin Monika Stein sagte, verfügten alle Kitas, Schulen, Jugendverbände und Pfarreien über Schutzkonzepte. Insgesamt seien es 120 Institutionen im Erzbistum.
Sexueller Missbrauch: Betroffenenrat bedauert Abwesenheit
Mehr noch: Das Referat Intervention bearbeitet alle Fälle, die dem Bereich sexualisierter Gewalt im kirchlichen Kontext zugeordnet werden können. Ziel sei es, möglichst früh einzugreifen, die Gewalt zu beenden und betroffenen Personen sowie Institutionen Unterstützung anzubieten. Das Referat gilt in Zusammenarbeit mit den vier unabhängigen Ansprechpersonen als Anlauf- und Begleitstelle für Betroffene.
Unterdessen hat der Betroffenenrat Nord mit Sitz in Dülmen (Nordrhein-Westfalen) bedauert, dass es kein gemeinsames Auftreten bei der Pressekonferenz am Mariendom gegeben habe. „Dem Wunsch, dass auch Vertreter des Betroffenenrates Nord dabei sind, hat Generalvikar Geißler nicht entsprochen“, heißt es in einer Erklärung. Geißler habe sich für „unser Interesse bedankt, möchte aber das Format eines reinen Pressegesprächs beibehalten“.
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Auch sei eine Diskussion und Bewertung der Inhalte für diesen Termin nicht vorgesehen gewesen. Der Generalvikar habe stattdessen den Betroffenenrat zu einem „Resonanzgespräch“ für die kommende Woche eingeladen, sich über den Tätigkeitsbericht auszutauschen.
Evangelische Kirche legt Bericht im nächsten Jahr vor
Missbrauchsfälle erschüttern nicht nur die katholische, sondern auch die evangelische Kirche. Die erste bundesweite Studie zu sexualisierter Gewalt und Missbrauch in der evangelischen Kirche soll am 25. Januar 2024 vorgestellt werden.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hatte Ende 2020 den Start der unabhängigen Studie zu sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen im Bereich der EKD und der Diakonie bekannt gegeben. Das Projekt eines Forschungsverbundes wird von der EKD und den Landeskirchen mit rund 3,6 Millionen Euro unterstützt.