Hittfeld/Bremen. Katharina Kracht fordert die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in der evangelischen Kirche – ein mühsames Unterfangen.

Die Entscheidung hatte sich Katharina Kracht nicht leicht gemacht. Drei Jahrzehnte war es her, dass ein evangelischer Pastor sie missbraucht und damit fürs Leben traumatisiert hatte. Der mittlerweile verstorbene Geistliche ging bei seinen Übergriffen so manipulativ vor, dass Katharina Kracht sich erst nach mehreren Jahren von ihm lösen konnte.

Die heute 48-Jährige war nicht sein einziges Opfer. Jörg Deneke war von 1986 bis 1996 Pastor in der heutigen Kirchengemeinde Rosengarten im Kirchenkreis Hittfeld, zuvor war er in Wolfsburg tätig, später in Tostedt. Er starb 2013 im Alter von 70 Jahren. Für den heute bekannten Missbrauch wurde er nie belangt. Bei der Landeskirche Hannovers sind mittlerweile zehn Fälle bekannt – vier aus dem Kirchenkreis Hittfeld, sechs aus Wolfsburg.

Opfern ist es wichtig, über Missbrauch in der Kirche zu sprechen

Die Betroffenen meldeten sich, nachdem Katharina Kracht ihren Entschluss gefasst hatte: Sie ging mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit, zunächst unter Pseudonym. Vor einem Jahr sprach sie im Abendblatt zum ersten Mal unter ihrem richtigen Namen über die Taten und ihren Einsatz für eine professionelle Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in der evangelischen Kirche. Es folgte ein turbulentes Jahr. Katharina Kracht merkte, dass sie etwas in Bewegung gesetzt hatte, und zugleich stieß sie auf kaum zu überwindende Hindernisse. Trotz allem: „Der Schritt war richtig“, sagt sie heute. „Für mich war es wichtig, aus der Anonymität heraus zu treten. Die Offenheit tut gut. Heute weiß ich: Mich trifft keine Schuld.“

Sie hat viele Gespräch geführt in den vergangenen Monaten, auch mit anderen Betroffenen. Die Taten lägen teilweise fünf Jahrzehnte zurück, sagt Katharina Kracht, die wegen der Übergriffe unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. „Aber auch nach so langer Zeit ist es den Betroffenen wichtig, den Missbrauch zu benennen.“ Noch immer sei es vielen Menschen unangenehmen, über das Thema zu sprechen. Aber es könne sich nichts ändern, wenn man die Vergangenheit nicht kritisch analysiere. „Man muss immer wieder die Frage stellen: Wie konnte das passieren?“

Kirche stellt Fachstelle Sexualisierte Gewalt neu auf

Mit der Bewältigung dieser Aufgabe steht die evangelische Kirche ihrer Einschätzung nach noch immer am Anfang. Im Kirchenkreis Hittfeld und auch teilweise bei der Landeskirche erlebe sie viele positive Reaktionen. Aber auf der Ebene der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) habe sich bei der Aufarbeitung früherer Missbrauchsfälle kaum etwas verändert. Noch immer höre sie, dass Verfahren stockten und falsche Versprechungen gemacht würden. „Ich bin sicher, dass es vereinzelt Personen gibt, die Licht ins Dunkel bringen wollen“, sagt Katharina Kracht. „Aber bei der Struktur sehe ich kaum Fortschritt.“

Ihre Kritik zielt insbesondere auf die Abläufe, die den Umgang mit Missbrauchsfällen regeln und die an vielen Stellen weiterhin lückenhaft seien. Diese Hürden begleiten sie seit Jahren. Als sich Katharina Kracht, die heute in Bremen lebt, 2015 zum ersten Mal an die zuständige Landeskirche wendet und von dem Missbrauch berichtet, trifft sie auf ein System, in dem Ansprechpartner schwer zu finden, Zuständigkeiten unklar und die Bereitschaft zur Aufarbeitung gering ist. Zwar erhält sie auf ihren Antrag hin eine sogenannte Leistung in Anerkennung erlittenen Leids. Denn die zuständige Kommission kommt zu dem Schluss, es bestehe „kein Zweifel“, dass Katharina Kracht dem Pastor und seinen „regelmäßigen massiven sexuellen Übergriffen sowie seiner Manipulation und Willkür“ ausgesetzt gewesen sei. Nach der Zahlung von 35.000 Euro hat sie jedoch den Eindruck, dass der Fall auf kirchlicher Seite abgeschlossen sei.

Kirchengemeinden müssen Schutzkonzepte erarbeiten

Um die Prävention und Aufarbeitung von Missbrauchsfällen zu verbessern, hat die Landeskirche Hannovers im vergangenen Jahr verschiedene Schritte eingeleitet. Mit den „Grundsätzen für die Prävention, Intervention, Hilfe und Aufarbeitung in Fällen sexualisierter Gewalt“ soll in allen Kirchengemeinden, Kirchenkreisen und Einrichtungen eine umfangreiche Präventionsarbeit etabliert werden. So ist zum Beispiel die Einführung von Schutzkonzepten bis Ende 2024 verbindlich vorgeschrieben.

Auch die Fachstelle Sexualisierte Gewalt wurde neu aufgestellt. So wurde die Stelle für Prävention und Aufarbeitung mit einer Diplom-Pädagogin besetzt. Sie berate derzeit in den Kirchenkreisen und entwickele ein Schulungskonzept, das von Frühjahr 2022 umgesetzt werden soll, sagt Benjamin Simon-Hinkelmann, Sprecher der Landeskirche. Im Januar werde eine dritte Mitarbeiterin hinzukommen, die über langjährige Erfahrung in der Beratung verfüge, mit einem Schwerpunkt im Bereich Traumapädagogik.

Anerkennungsverfahren sind noch nicht einheitlich geregelt

Hier sieht auch Katharina Kracht, dass sich die Dinge verbessern. Doch bundesweit sei noch zu wenig geschehen. So sollen Betroffene von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und ihrer Diakonie bei der Anerkennung des erlittenen Unrechts künftig in allen Landeskirchen auf vergleichbare Verfahren zurückgreifen können. Doch die Musterordnung der EKD gilt den Landeskirchen lediglich als Orientierung. Sie sei nicht verpflichtend, kritisiert Katharina Kracht. Zudem seien die Mitglieder der Unabhängigen Kommissionen sehr eng mit der Kirche verbunden. Diese Gremien, die künftig Anerkennungskommissionen heißen sollen, entscheiden über die Anträge der Missbrauchsopfer. Seit ihrem Aufbau 2012 haben sie bundesweit 942 Anträge zu Taten seit 1949 bearbeitet. Rund ein Drittel der Taten wurde in Kirchengemeinden verübt, die übrigen stammen aus dem Bereich der Diakonie.

Der neue Betroffenenbeirat der EKD wurde ausgesetzt

Eine zentrale Forderung vieler Betroffener ist ebenfalls nicht erfüllt. Noch immer fehlt eine unabhängige Ombudsstelle, an die sich Betroffene bei Schwierigkeiten wenden können, betont Katharina Kracht. „Solange es eine solche externe Anlaufstelle nicht gibt, wird sich nicht viel ändern.“ Unzureichendes Verständnis zeige sich auch im Umgang mit dem Begriff Trauma. Zwar gebe es innerhalb der Kirche mittlerweile das Wissen, dass viele Betroffene traumatisiert seien, sagt sie. „Aber gleichzeitig werden sie auf das Trauma reduziert. Das ist eine Abwertung.“

Die Nenndorfer Kreuzkirche, die heute zur Kirchengemeinde Rosengarten gehört. In diesem Jahr wurden hier Missbrauchsfälle aus den 1980er- und 1990er-Jahren öffentlich bekannt.
Die Nenndorfer Kreuzkirche, die heute zur Kirchengemeinde Rosengarten gehört. In diesem Jahr wurden hier Missbrauchsfälle aus den 1980er- und 1990er-Jahren öffentlich bekannt. © Lena Thiele

Um die Missverständnisse beim Thema Missbrauch in der Kirche zu verringern und den Aufarbeitungsprozess im Sinne der Betroffenen voranzutreiben, hatte sich Katharina Kracht 2020 in den neu gegründeten Betroffenenbeirat der EKD wählen lassen. Doch die Vorstellungen waren auf beiden Seiten offenbar zu unterschiedlich, zudem gab es interne Konflikte. Im Mai dieses Jahres wurde der Beirat offiziell ausgesetzt. Katharina Kracht warf der Kirche daraufhin Machtmissbrauch vor. Aus ihrer Sicht gibt es noch deutliche Missstände zu beseitigen, sie spricht von „mangelnder Wertschätzung und Verachtung“ im Umgang mit ihr als Betroffener. „Und ich stoße immer noch an vielen Stellen auf fehlende Fachkompetenz.“

Bei der Synode im November dieses Jahres hatte Christoph Meyns, Landesbischof in Braunschweig und Sprecher des Beauftragtenrats zum Schutz vor sexualisierter Gewalt der EKD, im Hinblick auf die bisherige Aufarbeitung eine gemischte Bilanz gezogen. Trotz aller Fortschritte sei das vergangene Jahr schwierig gewesen. „Wir hatten uns mehr vorgenommen, als wir erreichen konnten“, sagte Meyns und sprach von „harten Rückschlägen“. Man habe gemerkt, dass auch in bester Absicht Geplantes scheitern könne. An den Strukturen zur Aufarbeitung soll aber vorerst festhalten werden.

Außer der Kirche sind auch andere Institutionen betroffen

Katharina Kracht kritisiert fehlende Transparenz bei den Abläufen, es sei oft nicht eindeutig, wer an welchen Stellen die Entscheidungen trifft. Sie zweifelt daher an der Ernsthaftigkeit, mit der die evangelische Kirche die Aufarbeitung vorantreibt. Ihr Vorwurf: Es ginge mehr darum, irgendetwas zu tun, als tatsächlich etwas zu bewirken. Auch aus diesem Grund will sie sich künftig darauf konzentrieren, in anderen gesellschaftlichen Bereichen das Thema weiterzuverfolgen. Denn nicht nur in der Kirche gibt es sexuelle Gewalt. Auch in Kitas, Schulen, Heimen und Einrichtungen für behinderte Menschen müssten Fälle aufgearbeitet und Übergriffen vorgebeugt werden, betont die Pädagogin. „Es ist sehr wichtig, dass man überall hinguckt.“

"Wir hatten uns mehr vorgenommen, als wir erreichen konnten", sagt Bischof Christoph Meyns,  Sprecher Beauftragtenrat zum Schutz vor sexualisierter Gewalt. © epd/Jens Schulze

Ihr Einsatz hat Katharina Kracht im vergangenen Jahr viel Kraft gekostet. All die Arbeit und Anstrengung seien es dennoch wert gewesen, sagt sie. „Es ist wichtig, über den Missbrauch und die Missstände in der evangelischen Kirche zu reden. Ich sehe, dass mein Schritt etwas angestoßen hat. Und ich hoffe, dass einige Leute dadurch neue Perspektiven gewinnen.“ Und trotz aller struktureller Probleme, auf die sie gestoßen ist – auf der persönlichen Ebene habe der Schritt an die Öffentlichkeit sie weitergebracht. „Für mich ist es einfach gut, dass die Wahrheit raus ist. Ich kann zwar nicht kontrollieren, wie andere Menschen darauf reagieren. Aber ich habe meine Geschichte erzählt.“