Hamburg. Hamburgs Erzbischof bat um Entlassung und wurde vor Gericht als Zeuge geladen. Er spricht über Zweifel, Schuld und Sühne.
Fast ein Jahr ist sein Rücktrittsangebot an den Papst her. Jetzt spricht der Hamburger Erzbischof Stefan Heße erstmals mit dem Abendblatt über die Zeit vor seiner Rückkehr im September vergangenen Jahres und seine Aussage vor dem Landgericht Köln. Dort war ein katholischer Priester wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern angeklagt gewesen, am Freitag wurde der 70-Jährige zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Heße war im Erzbistum Köln Personalverantwortlicher in den Jahren von 2006 bis 2012 – zu der Zeit, als erstmals Vorwürfe gegen den Priester aus Gummersbach erhoben wurden.
Herr Erzbischof, Sie lagen am Boden, und zwar bei Ihrer Bischofsweihe 2015 im Mariendom. Die Gemeinde hatte für Sie den Beistand der Heiligen erbeten. Erinnern Sie das noch?
Stefan Heße: Ich habe diese Szene bereits mehrmals erlebt. Bei meiner Weihe zum Diakon, dann zum Priester und schließlich zum Bischof. Und sie wird jedes Jahr beim Beginn der Karfreitagsfeier wiederholt. Da legt sich der Geistliche flach auf den Boden. Das erinnert an Christus, den Leidenden und Gehorsamen. Die Weihe zeigt: Du machst gar nichts, sondern ein anderer.
Hat Ihnen dieses Erleben Kraft gegeben in den vergangenen Monaten?
Stefan Heße: Ich denke manchmal daran, aber es ist nicht jeden Tag präsent.
Bereuen Sie Ihren Berufswunsch, Priester geworden zu sein?
Stefan Heße: Ich habe mich in den vergangenen Monaten tatsächlich damit befasst, dass mein Leben eine andere Richtung bekommen könnte. Als ich dem Papst den Rücktritt angeboten hatte, war dieser Gedanke ganz zentral: Ich könnte auch eine andere Aufgabe übernehmen als die eines Bischofs.
Wie haben Sie Ihre „Auszeit“ begonnen?
Stefan Heße: Ich konnte die Zeit zunächst für Exerzitien nutzen, bei den Jesuiten am Niederrhein, einen Monat lang. Das Programm geht auf Ignatius von Loyola zurück. Dazu gehört, mehrere Stunden am Tag still zu beten. Mein geistlicher Begleiter sagte mir, ich müsste auch damit rechnen, dass der Papst zu mir sagt: Sie bleiben Bischof in Hamburg. Ich war entsetzt, dass der Pater mir diese Option so deutlich aufzeigte.
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Was wäre denn die berufliche Alternative gewesen?
Stefan Heße: Ich hätte mir zum Beispiel vorstellen können, als Seelsorger in einer Gemeinde zu arbeiten.
Dann kam im September die Nachricht aus Rom, dass der Papst Ihr Rücktrittsgesuch ablehnt.
Stefan Heße: Ich bekam das Schreiben per Mail, auf meinen PC, später per Brief.
Ein halbes Jahr lang mussten Sie auf diese Entscheidung warten. Was hat diese Zeit mit Ihnen gemacht?
Stefan Heße: Die Exerzitien waren sehr wichtig für mich. Ich stand vor der ganz persönlichen Frage: Kannst du auf diesen Glauben dein Leben weiter bauen, trägt die Berufung? Denn mein Glaube war schon erschüttert.
Sie hatten Zweifel an Gott?
Stefan Heße: Es gibt keinen Christen und wohl auch keinen Bischof, der nicht auch zweifelt. Die Begegnung und das Nahesein mit Christus in den Exerzitien waren am Ende jedoch stärkend für mich. Es hat mir geholfen auch im Blick auf meine frühere Tätigkeit als Personalreferent und dann Generalvikar in Köln, indem ich mir schließlich sagte: Ich stehe zu meiner Verantwortung und nehme an, was kommt.
Es waren nicht alle in Ihrem Bistum damit einverstanden, dass Sie im September 2021 wieder zurückkehrten. Sind Sie enttäuscht?
Stefan Heße: Es gab die unterschiedlichsten Rückmeldungen. Ich respektiere das und habe mir vorgenommen, nicht zu versuchen, den Menschen die kritischen Töne auszureden. Die Kritik ist da, und ich kann sie nachvollziehen.
Sie sind der erste Bischof in der Bundesrepublik, der vor einem Gericht als Zeuge ausgesagt hat – im Prozess gegen einen Priester vor dem Landgericht Köln. Wie haben Sie sich darauf vorbereitet?
Stefan Heße: Es ist für einen Bischof ungewöhnlich, aber nicht schlimm, als Zeuge vor Gericht geladen zu sein. Hier geht es um die Aufklärung vieler Verbrechen. Weil der Richter die Überzeugung hatte, dass ich einen Beitrag zur Aufklärung leisten kann, stand meine Zeugenaussage vor dem Kölner Landgericht außer Frage.
Wie lange wurden Sie befragt?
Stefan Heße: Dass es dann drei Stunden waren, hatte ich zunächst nicht erwartet. Aber das ist natürlich die Freiheit des Richters.
Welches Bild haben Sie von diesem Priester, der sein Pflegekind, seine Nichten und weitere Mädchen missbraucht haben soll?
Stefan Heße: Mich erschreckt, was alles herausgekommen ist und wie viele Verbrechen er begangen hat. Für mich ist ebenso erschreckend, dass die Staatsanwaltschaft vor zehn Jahren die Ermittlungen in diesem Fall eingestellt hat. Nun aber ist er neu aufgerollt worden. Und das ist gut so.
Kommt dieser Priester nach seinem Tod in den Himmel?
Stefan Heße: Was wir Gericht nennen, wird ihn mit der Wahrheit seines Lebens konfrontieren.
Sie haben im Gerichtssaal auch die betroffenen Frauen gesehen?
Stefan Heße: Ich konnte nicht alle Gesichter sehen und zuordnen.
Hatten Sie den Wunsch, mit den Frauen zu sprechen?
Stefan Heße: Ein solcher Wunsch muss immer von den Betroffenen ausgehen. Ich habe bereits mit Betroffenen gesprochen, die diesen Wunsch hatten. In diesem Kontext ist an mich noch kein Gesprächswunsch herangetragen worden. Ich habe mir aber die Frage gestellt: Bittest du um Verzeihung? Das über die Medien zu vermitteln, finde ich nicht angemessen. Ich stehe zu meiner Verantwortung und zu den systemischen Fehlern, für die ich mit anderen verantwortlich bin.
Das Kölner Missbrauchsgutachten des Strafrechtlers Gercke weist Ihnen nach Kardinal Meisner die meisten systemischen und Verfahrensfehler vor.
Stefan Heße: Es waren elf Fehler in neun Fällen. Die Fehler sind da, sie sind unterlaufen. Die kann ich nicht mehr reparieren.
Ist bei Ihnen ein Schuldgefühl vorhanden?
Stefan Heße: Ja. Die Frage ist auch, ist es nicht nur Schuld, sondern auch Sünde? Das beschäftigt mich oft. Das gehört zu meinem Leben, und das werde ich nicht mehr los. Ich lebe nicht in der Vorstellung, dass alles wieder gut sein wird.
Die Opfer empfinden es erst recht so!
Stefan Heße: Ja, sie müssen damit leben. Und das nehme ich als Verpflichtung, Prävention und Aufarbeitung in diesem Bereich noch konsequenter voranzutreiben. Das ist ohne Wenn und Aber ein Zukunftsthema unserer Kirche. Im Erzbistum, in Deutschland und auch weltweit.
Inzwischen laufen der Kirche die Gläubigen in Scharen davon. Wie wollen Sie den Aderlass stoppen?
Stefan Heße: Mich schmerzt es um jeden, der die Kirche – egal ob evangelisch oder katholisch – verlässt. Mein Anliegen ist es als Bischof, mich klar für Veränderungen einzusetzen.
Das bedeutet?
Stefan Heße: Die Aktion „Out in Church“ hat zu dem Ergebnis geführt, dass wir das Arbeitsrecht in der Kirche verändern werden. Die sexuelle Orientierung darf keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen mehr haben.
Die Bewegung Maria 2.0. drängt seit Langem auf weitere Reformen.
Stefan Heße: Wir haben im Bistum außerdem ein Frauenforum, in dieser Woche steht ein weiteres Gespräch an. Wir wollen erreichen, dass Frauen in den Strukturen unserer Kirche in Verantwortung kommen, zum Beispiel in den Abteilungsleitungen. Das bedarf einer langfristigen Förderung und Qualifizierung.
Das Priesteramt für Frauen bleibt weiterhin tabu?
Stefan Heße: Diese Frage ist Teil des Synodalen Weges und muss in der Weltkirche diskutiert werden. Ich merke an mir selbst, dass sich meine Haltung in dieser Frage durch die qualifizierten Diskussionen verändert.
Bald könnte es mehr verheiratete Priester geben.
Stefan Heße: Allein in unserem Erzbistum sind es drei – zwei ehemalige evangelische Pfarrer, die konvertiert sind, und ein Priester der ukrainisch-katholischen Kirche. Auf dem Synodalen Weg wird dieses Thema weiterhin theologisch diskutiert. Ich halte es für denkbar, dass es in Zukunft neben zölibatär lebenden Priestern auch verheiratete gibt.