Hamburg. Zahl der Schutzsuchenden steigt weiter. Nun schlagen mit Melanie Schlotzhauer, Andy Grote und Ties Rabe drei Senatoren Alarm.
Die Zahlen kennen seit Monaten nur eine Richtung: Während inzwischen rund 1,086 Millionen Ukrainer in der Bundesrepublik Zuflucht gesucht haben, kommen zugleich immer mehr Flüchtlinge über das Asylsystem nach Deutschland. Bis Ende August beantragten hierzulande 220.000 Menschen Asyl, ein Anstieg um 77 Prozent. Auch in Hamburg wird die Integration und Unterbringung der Schutzsuchenden schwieriger.
Inzwischen leben in der Hansestadt rund 35.000 Ukrainer, bislang kamen im laufenden Jahr 9000 neu registrierte Asylbewerber hinzu. 47.000 Menschen wohnen in öffentlicher Unterbringung. Die Belastungsgrenze ist erreicht, sagen Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer, Innensenator Andy Grote und Schulsenator Ties Rabe (alle SPD) im großen Abendblatt-Interview unisono. Ein Gespräch über Erfolge, Probleme, Ängste - und die Forderungen an Berlin.
Hamburger Abendblatt: Willy Brandt meinte im Januar 1973 im Bundestag, man müsse „sehr sorgsam überlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist“. Muss die SPD wieder mehr Willy wagen?
Andy Grote: Willy Brandt hatte meistens recht. Heute sind wir jedenfalls an einem Punkt angelangt, wo wir als Gesellschaft die anhaltend sehr hohe Zuwanderung nicht mehr gut verkraften. Wir haben während der ersten Flüchtlingswelle 2015/2016, aber auch in den vergangenen Jahren nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges Enormes geleistet. Deutschland hat allein seit Anfang 2022 rund 1,5 Millionen Menschen aufgenommen. Das ist eine großartige Leistung. Nun aber häufen sich die Signale der Überforderung auf vielen Ebenen - nicht nur bei der Unterbringung, sondern auch in der Gesellschaft insgesamt. Viele, die sehr engagiert waren, sagen uns jetzt: Wir können nicht mehr.
Flüchtlinge Hamburg: „Wir sind jetzt am Limit. Wir dürfen die Stadt nicht überfordern“
Wir schaffen es nicht mehr?
Melanie Schlotzhauer: Unsere Stadtgesellschaft hat Beeindruckendes bei der Unterbringung und Integration geschafft und bewiesen, wie leistungsfähig und weltoffen Hamburg ist. Dafür sind wir den Menschen in unserer Stadt sehr dankbar. Wir haben die Aufnahme der Menschen immer ganzheitlich im Blick. Von der anfänglichen Unterbringung bis hin zur Integration, über die Eingliederung in den Arbeitsmarkt, in Kitas und Schulen. Um es einmal bildlich zu machen: Wir haben aktuell eine Stadt von der Einwohnerzahl Pinnebergs in Hamburg öffentlich-rechtlich untergebracht. Leider ist keine Entspannung bei den Zugangszahlen absehbar, ganz im Gegenteil. Die Zugänge steigen noch, und wir beobachten mit Sorge, dass die Stimmung in der Stadt zunehmend kritischer wird. Wir sind jetzt am Limit. Wir dürfen die Stadt nicht überfordern, damit Integration weiterhin erfolgreich gelingt.
Es werden noch mehr Menschen kommen. Auf welche Zahlen richten Sie sich ein, und brauchen Sie bald wieder Turnhallen?
Grote: Wir sind bis Jahresende auf die Unterbringung weiterer 2000 bis 3000 Menschen vorbereitet. Wir eröffnen ständig weitere Unterkünfte und bauen Plätze auf. Turnhallen bleiben aber das allerletzte Mittel. Wir werden mit aller Kraft daran arbeiten, dass wir eine Unterbringung dort vermeiden können.
Neue Unterkünfte für Flüchtlinge: 800 Flächen werden jetzt noch einmal geprüft in Hamburg
Schlotzhauer: Drei Beispiele: Wir haben gerade den zweiten Bauabschnitt der Unterkunft am Vogelhüttendeich in Betrieb genommen und die Kapazitäten an der Berzeliusstraße ausgebaut, hinzu kommen nun Mitte Oktober die Messehallen. Sämtliche 800 Flächen, die wir bereits geprüft haben, schauen wir uns jetzt in einer zweiten, dritten Runde noch einmal an. Wir beschaffen Zelte und prüfen kontinuierliche weitere Hotelunterbringungen. Möglich ist auch, dass Fördern & Wohnen weitere Immobilien anmietet oder ankauft. Wir schieben also das Limit an Kapazitäten immer etwas weiter in die Zukunft, aber das ist keine Dauerlösung.
Hamburg hat im Vergleich mehr Ukrainer aufgenommen als Flächenländer. Und mehr als ganz Ungarn.
Grote: Da haben wir erhebliche Ungleichgewichte. Hätten wir die Flüchtlinge europaweit nach einem fairen Schlüssel verteilt, wäre das Problem nicht groß. Auch in Deutschland gibt es Schieflagen: Die Metropolen sind deutlich stärker belastet, wir fordern seit Langem eine gerechtere Verteilung.
Flüchtlinge Hamburg: „Wenn wir den Bogen überspannen, verlieren wir diese Akzeptanz.“
Wie lange geht es noch gut?
Grote: Wir brechen jetzt nicht in wenigen Tagen oder Wochen zusammen, aber es kann nicht immer so weitergehen. Wir haben die Flüchtlingswelle von 2015/16 noch nicht komplett verarbeitet. Schon vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine lebten fast 30.000 Flüchtlinge in öffentlichen Unterkünften, jetzt sind es 46.000. Darin liegt auch ein riesiges Integrationshemmnis für die Menschen. Wir dürfen die Integrationskraft und auch die Unterstützungsbereitschaft in unserer Stadt nicht gefährden, gerade weil wir auch in Zukunft verfolgten Menschen Schutz bieten wollen. Dafür benötigen wir funktionierende Systeme und die gesellschaftliche Akzeptanz. Wenn wir den Bogen überspannen, verlieren wir diese Akzeptanz.
An den Schulen wird es konkret, dort wird Integration gelebt. Schaffen die Schulen das noch?
Ties Rabe: An den Schulen haben wir nicht nur ein Pinneberg aufgenommen, sondern rechnerisch sogar drei Pinnebergs. In den vergangenen Jahren kamen 13.000 Schüler zusätzlich hinzu, die eine Fluchtgeschichte mitbringen. Das Schöne ist, dass unsere Schulen den Umgang mit Flüchtlingen gewöhnt sind und längst eine herzliche und zugleich professionelle Willkommenskultur entwickelt haben. 90 Prozent der Gymnasien und Stadtteilschulen haben inzwischen Flüchtlingsklassen. Anderswo sind das Pilotprojekte, bei uns ist es gelebter Alltag. Nun aber sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir ohne Qualitätseinschränkungen den Ansturm nicht mehr bewältigen können.
Schule Hamburg: Die Klassen werden durch Zuwanderung größer
Warum nicht?
Rabe: Es fehlen Lehrkräfte und Räume. Das normale Jahreswachstum von 2000 Schülern haben wir im Griff, noch mehr wird schwierig und geht manchmal nur über größere Klassen oder die Nutzung von Aushilfsräumen. Im vergangenen Jahr haben wir 8000 Schüler zusätzlich aufgenommen. Das sollte sich nicht wiederholen. Dann werden die Rahmenbedingungen für alle immer schwieriger, zudem stecken dem Schulsystem die Corona-Schließungen noch in den Knochen. Immer mehr Schulbeteiligte sind müde und durchgescheuert. Das macht mir Sorgen. Irgendwann muss man sagen: So geht es nicht weiter.
Steht die Begrenzung der Klassengrößen zur Disposition?
Rabe: In den Flüchtlingsklassen mussten wir die Obergrenze von 15 auf bis zu 18 Schüler pro Klasse erhöhen, sonst wäre die Aufnahme von über 8000 Flüchtlingskindern nicht möglich gewesen. In den Regelklassen können wir die Größen finanziell theoretisch niedrig halten, aber in der Praxis klappt das nicht immer. Wenn Kinder aus den Flüchtlingsklassen in die bestehenden Regelklassen wechseln, nimmt in den Regelklassen die Schülerzahl zu. Dann können Stadtteilschulklassen auch mal 27, 28 oder 29 Schüler haben. Die Alternative wäre, fünf Parallelklassen aufzulösen und mit den zusätzlichen Flüchtlingskindern zu sechs kleineren Klassen neu zusammenzusetzen. Aber dann müssten wir bestehende Klassengemeinschaften und Freundschaften außereinanderreißen. Dieses Dilemma darf kein Dauerzustand werden.
„Gemeinsames europäisches Asylsystem ist ein echter Paradigmenwechsel“
Die zentrale Frage an die Politik lautet: Wie wollen Sie die Zuwanderung begrenzen?
Grote: Wir haben am Mittwoch mit den Innenministern der SPD-geführten Innenressorts und Bundesinnenministerin Nancy Faeser beraten, und allen ist klar, dass die Zahlen runter müssen. Die irreguläre Migration nach Deutschland ist zu hoch, auch weil andere europäische Staaten nicht registrieren, sondern zu uns durchleiten. Ich bin froh, dass die Bundesinnenministerin hier die richtigen Weichen stellt. Das gilt einerseits für die Bekämpfung der irregulären Migration über die neue Balkanroute. Die erreichten Kontrollen durch Polen, Tschechien und Österreich an der Grenze zur Slowakei und unsere eigenen Grenzschutzmaßnahmen werden eine Wirkung entfalten und die Zugangszahlen spürbar senken. Zum anderen brauchen wir ein stabiles, gemeinsames europäisches Asylsystem, so wie es jetzt auf den Weg gebracht wird. Das ist ein echter Paradigmenwechsel: Zum ersten Mal hätten wir damit eine wirksame Steuerung und Verteilung der Flüchtlingsankünfte in Europa. Derzeit werden noch mit Abstand die meisten Asylanträge in Deutschland direkt gestellt. Das muss sich ändern.
Hamburg prüft Umstellung von Geld- auf Sachleistungen
Das könnte auch darin liegen, dass Deutschland großzügig bei den Sozialleistungen ist. Man könnte beispielsweise die Transferzahlung von Geld- auf Sachleistungen umstellen.
Schlotzhauer: Das ist in der Tat in der bundespolitischen Diskussion. Und ich verstehe den Gedanken dahinter. Hamburg wird im Rahmen eines Pilotprojekts die sogenannte Social Card als Prepaid Bezahlkarte einführen. Dies hat viele Vorteile für die Menschen in unseren Leistungssystemen. In diesem Zuge werden wir auch sehr genau prüfen, was möglich ist, um Geldauszahlungen sinnvoll zu begrenzen. Wir befinden uns aktuell in einem Vergabeverfahren. Voraussichtlich Ende Oktober wissen wir mehr. Da die Karte aber nicht nur für Asylbewerber, sondern für alle Menschen mit Grundsicherungsleistungen vorgesehen ist, müssen wir genau hinschauen, was technisch überhaupt möglich ist.
Grote: Wir reden nicht nur darüber, sondern arbeiten an der konkreten Umsetzung.
Flüchtlinge in Hamburg: Zuwanderung wirkt sich auf die Kriminalität aus
Herr Innensenator, wie wirkt sich die Zuwanderung auf die Kriminalitätsstatistik aus?
Grote: In jeder Bevölkerungsgruppe gibt es einen Anteil an Menschen, die straffällig werden. Wenn wir eine hohe Zahl von jungen Männern mit instabiler Lebenssituation haben, wirkt sich das aus. Diese Gruppe ist unter Flüchtlingen überrepräsentiert.
Gelangen Menschen mit falschen Visa in nennenswerter Zahl zu uns?
Grote: Wir bekommen immer wieder Hinweise darauf - aber häufig bewahrheiten sie sich nicht.
Warum nehmen wir angesichts der Lage noch Drittstaatler aus der Ukraine auf, also etwa Inder oder Marokkaner? Sie könnten auch in ihre Heimat.
Grote: Nach den bundesweit geltenden Regeln können auch Drittstaatsangehörige in bestimmten Fällen Schutz erhalten, zum Beispiel, wenn sie nicht sicher in ihr Herkunftsland zurückkehren können.
Hamburg hat deutlich mehr Ukrainer aufgenommen als andere Länder
Warum sind so viele junge Männer aus der Ukraine in Hamburg - sie dürfen doch offiziell nicht ausreisen und sollen kämpfen ...
Grote: So viele sind es nicht. Frauen, Kinder und Senioren machen den allergrößten Anteil der Geflüchteten aus. Und den ukrainischen Kriegsdienst können nur die ukrainischen Behörden durchsetzen.
Rabe: In Hamburg liegen wir bezogen auf die Zahlen gerade bei den Schülern deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Hamburg ist ein Vierzigstel der Bundesrepublik, bei den Ukraine-Flüchtlingen in unseren Schulen liegen wir hingegen eher bei einem Zwanzigstel.
Schule Hamburg: 8000 Schüler aus der Ukraine, aber nur 40 Lehrer
Sie haben ein ehrgeiziges Schulbauprogramm aufgelegt. Wird das angesichts der Zuwanderung noch reichen?
Rabe: Wir können unser auf Hochtouren laufendes Bauprogramm nicht binnen Monaten umsteuern, denn jede Planung dauert drei bis vier Jahre, der Bau noch einmal eineinhalb bis zwei Jahre. Anpassungen benötigen Zeit. Bis zur Ukraine-Krise stimmten die Prognosen mit der Wirklichkeit überein. Jetzt leider nicht mehr. Zum Glück haben wir beim Schulbau großzügig geplant. Zudem verfügen alle Schulen durch die vielen Fachräume über eine natürliche Raumreserve von rund 30 Prozent. Wir können zusätzlich abpuffern und Container aufstellen. Aber solche Maßnahmen sind organisatorisch aufwendig, störanfällig und sollten die Ausnahme bleiben. Wir müssen zurück zu planbaren Zuwanderungszahlen. Noch ein Beispiel, das das Problem verdeutlicht. Wir haben 8000 Schüler aus der Ukraine eingeschult, für sie benötigen wir rund 450 Lehrer. Unter den Geflüchteten konnten wir aber nur 40 Lehrer gewinnen.
Es gelingt Deutschland offensichtlich schlechter als anderen Staaten, ukrainische Flüchtlinge in Beschäftigung zu bringen. Woran liegt das?
Schlotzhauer: Sprache ist immer der Schlüssel für eine gelungene Integration in die Arbeitswelt. In Staaten mit slawischer Muttersprache fällt die Integration leichter. Deutsch ist sperriger zu lernen. Und Eingliederung braucht seine Zeit. In Hamburg ist der Weg sehr genau vorgezeichnet: Sprachkurs, Integrationskurs, dann die Vermittlung in Arbeit. Derzeit ist die Zahl der Sprachlehrer ein Engpass. Und die Anerkennung der Berufsausbildung dauert bei uns länger – denn wir wollen die Menschen in qualifizierungsadäquate Beschäftigung bringen. Angesichts des Fachkräftemangels brauchen wir eine gut organisierte Zuwanderung in unseren Arbeitsmarkt.
Rabe: Wir sind da sehr genau, auch weil die Vorgaben der Sozialpartner so sind. Manches erscheint mir sehr stark reglementiert und erleichtert die Jobaufnahme nicht.
„Diese Erfolgsgeschichte dürfen wir aber nicht aufs Spiel setzen“
Setzt Deutschland möglicherweise Fehlanreize, nicht zu arbeiten - etwa durch das großzügige Bürgergeld?
Schlotzhauer: Integration in Arbeit braucht in Deutschland einfach seine Zeit. Wir kommen schrittweise voran. Im Oktober finden wieder zwei große Jobmessen für Zuwanderer in der Barclays Arena und der Handelskammer statt. Mit dem Jobcenter haben wir hier einen leistungsfähigen Partner.
Wo sehen Sie Erfolgsgeschichten?
Grote: Wir haben über einen sehr langen Zeitpunkt eine hohe Zahl von Menschen aufgenommen und integriert. Viele sind hier angekommen - im Schulsystem, in der Berufsausbildung, in sozialversicherungspflichtigen Jobs. Das ist eine beeindruckende Leistung, auf die wir in Hamburg stolz sein können. Genau diese Erfolgsgeschichte dürfen wir aber nicht aufs Spiel setzen! Wir wollen die Kraft und Leistungsfähigkeit unseres Systems erhalten. Im Übrigen hat auch die Unterbringung in der Hansestadt viel geräuschärmer geklappt als anderswo.
„Nationale Notlage“: Sogar Hamburg stößt schon an seine Grenzen
Das wird man in der City Nord, wo es massive Probleme mit Flüchtlingen gibt, anders sehen.
Schlotzhauer: Wenn Probleme aufkommen, adressieren wir diese direkt. In enger Absprache mit den zuständigen Bezirken und Fördern & Wohnen. Wir haben 244 Unterkünfte mit 46.000 Menschen in dieser Stadt. Viele laufen völlig geräuschlos. Die Probleme in der City Nord sind die Ausnahme, nicht die Regel.
Grote: Wir waren übrigens im September 2022 schon einmal an einem Punkt, an dem wir uns große Sorgen um die Unterbringungssituation gemacht haben. Das haben wir gut hinbekommen, und die meisten haben nicht viel davon bemerkt, obwohl die Zahl der Schutzsuchenden im vergangenen Jahr noch größer war als 2015/16. Man kann aber nicht immer noch mehr drauflegen.
Schlotzhauer: Wir haben in Hamburg gemeinsam mit der Stadtgesellschaft einen guten Weg eingeschlagen und eine hohe Anzahl von Menschen in unserer Stadt aufgenommen. Jetzt kommen wir aber an Grenzen, und wenn wir hier in Hamburg jetzt an Grenzen stoßen, dann sind wir in einer nationalen Notlage. Denn Hamburg hat bislang bundesweite Maßstäbe gesetzt, wie Aufnahme und Integration gelingen können.
Senatorin aus Hamburg übt massive Kritik an Bundesregierung
Was wünschen Sie sich konkret vom Bund?
Schlotzhauer: Ich wünsche mir eine Bundesregierung, die anerkennt, was wir hier leisten. Und einen Finanzminister, der nicht die Gelder für die Migrationsberatung oder Arbeitsmarkteingliederung kürzt oder die Bundesfreiwilligendienste streichen will. Das sind alles wichtige Maßnahmen, damit Zuwanderer hier ankommen können. Die derzeitigen Finanzplanungen des Bundes sind nicht hilfreich.
Rabe: Ich bin seit zwölf Jahren Senator und weiß, dass das Gerangel zwischen Bund und Ländern normal ist. Bislang bemühte man sich um Kompromisse, egal welche Farbe regierte. Die Bundesebene jetzt - ob Parlament, Ausschüsse oder Ministerien - verhält sich aber gegenüber den Ländern ungewöhnlich schroff und ablehnend. Das macht es wirklich schwierig. Es geht nicht nur um Geld, sondern auch um partnerschaftliche Zusammenarbeit. In Berlin weht ein neuer Wind, der mir nicht gefällt.
Grote: Die Tonlage und das Verhalten des Bundesfinanzministeriums sind wirklich ungewöhnlich unfreundlich. Hier stehen uns noch unangenehme Auseinandersetzungen bevor.
Asyl in Deutschland: Außengrenzen wirksam schützen
Was fordern Sie?
Grote: Das alles Entscheidende ist, die irreguläre Migration und damit die Zahl der Zugänge schnell zu reduzieren. Die Zahlen müssen runter. Damit steht und fällt alles. Das gemeinsame Europäische Asylsystem ist ein großer Schritt nach vorne - zu diesem Erfolg hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser ganz entscheidend beigetragen.
Damit werden die Zahlen aber nächste Woche noch nicht sinken ...
Grote: Deshalb brauchen wir ein funktionierendes Grenzregime an den Fluchtrouten, Migrationsabkommen mit den Herkunftsländern und mehr Effizienz bei Rückführungen. Wenn Europa mit seinen offenen Binnengrenzen weiter funktionieren soll, benötigen wir ein funktionierendes Zuwanderungsregime, das seine Außengrenzen wirksam schützt.
Bedarf es eines schwedischen Moments? Ende 2015 erklärte die dortige rot-grüne Regierung, dass das Land am Limit sei und keine weiteren Flüchtlinge sich mehr auf den Weg machen sollten.
Schlotzhauer: Nur Konkretes ist wirksam. Ich glaube nicht, dass es das richtige Signal wäre. Konkrete Handlungen sind wichtiger, und der Kanzler hat einen Plan und steuert nun um.
Grote: Menschen, die ein besseres Leben suchen, wird man mit Appellen nicht erreichen. Das ist eher Symbolpolitik fürs heimische Publikum.
- Der Leitartikel von 2015: Migration: Große Chancen, große Risiken
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Angesichts der AfD-Umfragezahlen auch keine schlechte Idee ...
Grote: Wir treten für Lösungen an, nicht Symbole. Wir müssen zwischen den Polen der Debatte einen rationalen Kurs steuern. Weder das Ausblenden von Negativwirkungen hoher irregulärer Migration, noch rechtspopulistische Diffamierungen von Zuwanderung helfen bei der Lösung. Die Menschen erwarten politische Steuerung. Da müssen wir als demokratische Regierungen handlungsfähig sein.
Rabe: Unsere Stadt braucht Zuwanderung, Zuwanderung hat Hamburg groß und wohlhabend gemacht, wirtschaftlich, kulturell, sozial. Wer sich in der Geschichte umschaut, sieht immer wieder den positiven Einfluss von Hamburgern mit Migrationsgeschichte. Sogar Hapag-Lloyd-Gründer Albert Ballin kam aus einer Flüchtlingsfamilie. Hamburg „kann“ Integration, in den Schulen hat jedes zweite Kind Migrationshintergrund – und der Weltuntergang ist ausgeblieben. Im Gegenteil: Wir müssen um unsere Zukunft fürchten, wenn in unseren Schulen jeder zweite Platz leer wäre. Wer aber auch in Zukunft auf erfolgreiche Zuwanderung und Integration setzen will, muss auf diese wahnsinnigen Zahlen reagieren. In dieser Größenordnung kann die Stadt es nicht mehr lange durchhalten. Sonst kippt die Stimmung. Wir müssen deshalb dringend zu Maß und Mitte zurückfinden.