Hamburg. Die Mohrs putzen regelmäßig Kirche und Kanzlei. Anders kämen sie im Alter nicht klar. Wie ihnen geht es immer mehr Menschen.
Erst Ausschlafen, dann spazieren gehen und nachmittags den Schrebergarten umgraben: Sabine Mohr hatte sich ihr Leben als Rentnerin entspannt vorgestellt. Mit Zeit für die Dinge, die wegen Kindererziehung oder Arbeit in den vergangenen Jahren liegen geblieben sind und die sie einfach immer schon einmal machen wollte. Ebenso wie ihr Mann Rolf, der statt einer Gartenharke an diesem Mittwochmorgen nun einen Besen in der Hand hält und den Fußboden der Ansgarkirche in Langenhorn fegt.
Seit kurz vor neun Uhr wischt das Ehepaar Mohr bereits Bänke mit Möbelseife ab, spachtelt den Altar von Kerzenwachs frei und entfernt Spinnweben von den Wänden. So wie jeden Mittwochmorgen für insgesamt zweieinhalb Stunden. Damit es schneller geht, putzen die beiden gemeinsam. Ebenso wie in der Kanzlei, die sie jeden Freitag um sieben Uhr in der Früh reinigen.
Beobachtet man die zwei dabei, wie gewissenhaft sie Putzlappen und Besen schwingen, könnte man fast meinen, die 68-Jährige und der 71-Jährige machten es aus Freude an der Sache. Einfach, um sich ein nettes Taschengeld zu ihrer Rente hinzuzuverdienen und die freie Zeit mit etwas Nützlichem zu verbringen.
Rente reicht nicht: Immer mehr Senioren aus Hamburg arbeiten
Doch der Eindruck täuscht: Auch wenn die Mohrs es als „Glücksfall“ bezeichnen, dass sie diesen Job, nur fünf Gehminuten von ihrem Zuhause entfernt, überhaupt bekommen haben, so machen die beiden die Arbeit, weil es mit ihrer Rente von insgesamt 1900 Euro sonst eng werden würde. Erst recht mit einem kranken Kater, der an einer Niereninsuffizienz leidet und monatlich teure Medikamente braucht, der Angst vor der hohen Heizkostennachzahlung und dem Wunsch, in eine neue Wohnung zu ziehen. Dabei leidet Sabine Mohr an Osteoporose – eine Krankheit, bei der die Knochen schmerzen und übermäßige Bewegung nicht förderlich ist.
Doch mit ihrer Situation sind die Mohrs nicht allein. Wie eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag ergab, gehen immer mehr Rentnerinnen und Rentner einer Beschäftigung nach. Laut dem Bundesministerium für Arbeit arbeiten aktuell 1.123.000 Menschen, die 67 Jahre alt und älter sind und damit das Renteneintrittsalter überschritten haben. Das sind 56.105 Seniorinnen und Senioren mehr als im Vorjahr.
Wenn die Rente zum Leben nicht reicht: Immer mehr Hamburger Rentner arbeiten
Und das zeigt sich auch in Hamburg: Hier ist der der Anteil von Menschen, die mindestens 65 Jahre alt und in Arbeit sind, in den vergangenen zwei Jahren ebenfalls gestiegen. Waren es 2020 noch 12.604 Rentnerinnen und Rentner, die einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung von 15 Stunden und mehr nachgingen, waren es 2022 bereits 15.770. Ebenso gilt dies für Rentnerinnen und Rentner, die eine geringfügige Beschäftigung haben. Hier waren es 2020 noch rund 20.400, 2022 bereits 21.600. Die Mehrheit geht also einem sogenannten 520-Euro-Minijob nach.
Zwar verraten die Zahlen nicht, aus welchen Motiven sich die Menschen dazu entscheiden, auch nach ihrem eigentlichen Renteneintritt noch zu arbeiten. Die Linksfraktion im Bundestag geht jedoch davon aus, dass es finanzielle Gründe sind, die viele Rentnerinnen und Rentner dazu zwingen. Der Ostbeauftragte der Linksfraktion, Sören Pellmann, sagte dem RedaktionsNetzwerk Deutschland erst kürzlich zu den gestiegenen Zahlen: „Das ist eine traurige Entwicklung und ein Symptom eines kaputten Rentensystems.“
Weniger Rente wegen Kindererziehung statt Arbeit
Sabine Mohr ist jedoch selbstkritischer: „Ich bin ja irgendwie selbst schuld“, sagt sie auf die Frage, was es mit ihr macht, mit 68 Jahren und einer Knochenkrankheit noch putzen zu gehen. Weil die Rentnerin sich lieber um ihre Kinder kümmern und dabei insbesondere auf ihren jüngsten Sohn, der unter ADHS litt, eingehen wollte, sei sie rund 20 Jahre zu Hause geblieben. Zeit, in der sie nicht in die Rentenkasse eingezahlt hat. Aus Sicht von Sabine Mohr aber eine Zeit, die sich für sie „ausgezahlt“ hat: „Alle meine Kinder sind etwas Anständiges geworden, und ich bereue keine Minute, die ich mit meinen Kindern verbracht habe, anstatt einer bezahlten Arbeit nachgegangen zu sein.“
Vor der Geburt ihrer zwei Söhne und ihrer Tochter und nach deren Auszug hat Mohr im Callcenter gearbeitet. Diese Arbeit hat sie geliebt, erzählt die Hamburgerin. Ebenso wie ihr Mann, der gelernter Einzelhandelskaufmann ist und zuletzt die Hallen bei der Lufthansa gereinigt hat. Weil der 71-Jährige jedoch eine Fehldiagnose über eine Alzheimer-Erkrankung erhielt, musste Mohr bereits mit 59 Jahren vorzeitig in Rente gehen und damit auf knapp zehn Prozent seiner Rente verzichten.
- Rente mit 70? Experte hat ganz andere Idee – Ärger droht
- Zu viele offene Jobs in Hamburg – sind jetzt etwa Rentner die Lösung?
- Schule Hamburg: Wegen Lehrermangel – jetzt kommen die Pensionäre zurück
„Geld, was wir jetzt gut gebrauchen könnten“, sagt der Rentner. Bei einer Miete von knapp 800 Euro, einem Auto, einem Schrebergarten und und den üblichen Versicherungskosten für eine Haftpflicht-, Sterbe-, Glasbruch- und Hausratversicherung bleibt dem Paar am Ende des Monats nicht mehr viel übrig. In den Urlaub auf ihre Lieblingshallig Hooge fahren die beiden deshalb schon lange nicht mehr.
Hamburg: Schere zwischen Arm und Reich wird in der Hansestadt immer größer
Doch die beiden wollen nicht jammern. „Wir leiden nicht an Hunger und machen uns trotzdem eine schöne Zeit“, sagt Sabine Mohr. Mithilfe eines Lebensmittelverteilers, Secondhandkleidung und Energiesparmitteln wie Steckdosenleisten komme es am Ende immer hin. Um jedoch Geld zu sparen für ihren Umzug, will das Ehepaar jedoch bald seinen geliebten Schrebergarten aufgeben und das Auto abgeben.
Angst, dass sie bald nicht mehr arbeiten können, haben die beiden nicht, aber: „Irgendwann kann und will ich auch einfach nicht mehr arbeiten“, sagt Rolf Mohr. Dass Armut und die Schere zwischen Arm und Reich in Hamburg immer größer werde, das wecke Wut in ihm. „Auf der einen Seite haben wir dieses schöne und reiche Hamburg. Auf der anderen Seite sitzen Menschen wie wir. Diese ungerechte Verteilung muss sich ändern.“