Hamburg. In Hamburg herrscht quasi Vollbeschäftigung – Arbeitskräfte werden dringend gesucht. Wie die Lösung aussehen könnte.
„Die Menschen wollen wieder feiern, essen, trinken, in netter Gesellschaft sein“, sagt der Hamburger Gastronom Jens Stacklies. Nach mehr als zwei Jahren Pandemie mit zeitweise drastischen Einschränkungen für jeden Einzelnen herrsche nun ein „immenser Nachholbedarf“ bei diesen „netten Dingen des Lebens“.
Vor Reservierungen und Anfragen könne er sich deshalb aktuell kaum retten, so Stacklies. Und dennoch muss er zwei Ruhetage pro Woche in seinen Restaurants einführen. So hat das Schöne Leben in der Speicherstadt jetzt montags und dienstags geschlossen, im Gröninger bleiben die Türen sonntags und montags zu. „Sonst hatten wir immer sieben Tage in der Woche geöffnet. Aber wir finden einfach kein Personal, um den Betrieb durchgehend in der gewohnten Qualität am Laufen zu halten“, sagt Stacklies zur Begründung.
Ein Problem, das er mit Hunderttausenden Unternehmern bundesweit teilt. In nahezu jeder Branche fehlen Beschäftigte. Industriebetriebe suchen verzweifelt nach Ingenieuren, Einzelhändler könnten unzählige Verkäufer einstellen, Landwirte benötigen Erntehelfer, Schulleiter stöhnen mit Blick auf den Lehrermangel, Handwerker finden weder Gesellen noch Auszubildende.
In der Statistik der Arbeitsagentur Hamburg sind knapp 13.000 offene Stellen aufgeführt – ein Plus zum Vorjahr von 26 Prozent. Allerdings vertrauen viele Unternehmer schon gar nicht mehr auf den offiziellen Weg über die Agentur, sondern begeben sich selbst auf die zähe und meist erfolglose Suche nach Personal. Der Bedarf ist folglich um ein Vielfaches größer als es die Statistik ausweist.
Ladengeschäfte müssen Öffnungszeiten anpassen
Tageweise geschlossene Restaurants, verkürzte Öffnungszeiten von Ladengeschäften und unterbesetzte Rezeptionen in Hotels rücken ein Problem in das Bewusstsein der Öffentlichkeit, das es schon lange gibt. „Der Arbeitskräftemangel in Deutschland ist nicht neu, er wird nun nur sichtbarer“, sagt Professor Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg.
Schon vor Corona hätten Industrie, Handwerksbetriebe, Einzelhandel, Pflegeeinrichtungen und viele andere Unternehmen ohne Erfolg Personal gesucht. Als dann in der Pandemie Restaurants, Bars und Hotels schließen mussten, hätten sich die dort Beschäftigten neue Jobs in anderen Branchen gesucht – und viele von ihnen wollten nun nicht mehr zurück zu ihren früheren Arbeitgebern.
Kein Wunder: Denn nicht nur die Bezahlung ist andernorts oft besser als in der Gastronomie- und Beherbergungsbranche, auch die Arbeitszeiten sind meist deutlich angenehmer. „Wir haben an der Personalmisere zum Teil selbst schuld“, zeigt sich Gastronom Stacklies reumütig. Doch mittlerweile hätten viele in der Branche reagiert, die Löhne angehoben, Schichtpläne arbeitnehmerfreundlicher gestaltet. Man gehe auf die Bedürfnisse der Beschäftigten deutlich stärker ein.
Köche und Bedienungen sind schwer zu finden
Für einen Jungkoch zahlt Stacklies nach eigenen Angaben im Monat nun mindestens 2500 bis 2600 Euro brutto. Offene Stellen am Herd kann er dennoch nicht besetzen. Ähnlich aussichtslos ist die Situation bei Bedienungen. Auch sie würden mittlerweile besser entlohnt als früher, und obendrauf komme ein „üppiges Trinkgeld“.
Dennoch gebe es kaum Bewerber. Während viele Arbeitsmarktexperten – trotz der jüngsten Verbesserungen – weiterhin der Meinung sind, dass zu geringe Löhne und belastende Arbeitszeiten in der Gastronomie abschrecken, gibt Stacklies die Hauptschuld an der Misere dem Staat. „Arbeit wird einfach zu hoch besteuert, die Abgaben müssen endlich kräftig gesenkt werden, damit die Beschäftigten netto mehr im Portemonnaie haben. Für viele lohnt sich ehrliche Arbeit doch gar nicht mehr, die fahren besser mit Sozialtransfers wie Hartz IV.“
In der Realität kann ein alleinstehender Bezieher von Arbeitslosengeld II mit Wohngeld und weiteren staatlichen Zuschüssen durchaus auf rund 1000 Euro im Monat kommen. Dies sind immerhin gut 900 Euro weniger als der Jungkoch nach Abzug aller staatlicher Abgaben überwiesen bekommt. Und dennoch muss die Frage erlaubt sein: Sind 900 Euro extra im Monat tatsächlich Anreiz genug, um an mindestens fünf Tagen in der Woche hinter dem Herd zu schwitzen – häufig an Sonn-, Feiertagen und abends?
Unternehmen müssen weiter die Löhne erhöhen
Weil der Staat derzeit gar nicht die finanziellen Spielräume hat, um Steuern und Sozialversicherungsabgaben nachhaltig zu senken, müssen Gastronomen wie Stacklies die Löhne wohl weiter anheben, wollen sie gute Leute einstellen. Denn die Konkurrenz schläft nicht. In der Pflege, in Kindergärten, im Schuldienst – nahezu in allen Bereichen, in denen der Personalbedarf besonders hoch ist, wird mittlerweile deutlich besser als vor Corona bezahlt.
Und der Kampf um das knappe Gut Arbeitskraft wird sich noch verschärfen, hier sind sich alle Experten einig. Denn zwischen 2025 und 2035 wird die sogenannte Babyboomer-Generation in den offiziellen Ruhestand gehen. „Dann werden wir Millionen von Arbeitskräften verlieren, die wir wegen der nun viel zu geringen Geburtenraten nicht ersetzen können. Eine Entwicklung, die unsere Volkswirtschaft vor immense Herausforderungen stellt“, sagt IAB-Experte Weber. „Allein der Ersatzbedarf für in Rente gehende Fach- und Führungskräfte wird in den nächsten zwölf Jahren in Hamburg auf eine schier unvorstellbare Größe von 176.500 Personen anwachsen“, heißt es von der lokalen Arbeitsagentur.
Hamburg mit Rekordwert bei fest angestellten Arbeitskräften
Schon heute herrscht bundesweit und in Hamburg quasi Vollbeschäftigung. Es ist nämlich keineswegs so, dass das Gros der Deutschen arbeitsunwillig zu Hause sitzt, staatliche Transfers kassiert und Unternehmen deshalb kein Personal finden. So hat es bundesweit noch nie so viele sozialversicherungspflichtige Jobs gegeben wie heute. Allein in Hamburg sind mehr als eine Million Frauen und Männer fest angestellt – ein Rekordwert!
Und dennoch ist Weber davon überzeugt, dass deutlich mehr Arbeitskraft mobilisiert werden könnte. Denn jeder vierte Beschäftigte in Hamburg (2020: 28,5 Prozent) geht einer Teilzeittätigkeit nach. Eine noch bessere Kinderbetreuung (auch durch Unternehmen) sowie attraktivere Arbeitszeiten mit viel Homeoffice wären wohl die Zutaten, mit denen man Teilzeitkräften einen Vollzeitjob schmackhaft machen könnte.
Langzeitarbeitslose könnten ein Teil der Lösung sein
Des Weiteren ruft Weber die Unternehmen dazu auf, mehr Langzeitarbeitslose einzustellen. Sie gelten unter Personalchefs oft als schwierig und unmotiviert – ein Vorurteil, wie es auch von der Arbeitsagentur heißt. Allein in Hamburg suchen aktuell rund 24.000 Hamburgerinnen und Hamburger seit mehr als einem Jahr nach einer Anstellung – das sind rund 35 Prozent aller Erwerbslosen in der Stadt. Das Potenzial ist also groß.
Doch nur mit Arbeitskräften, die bereits in Deutschland leben, wird sich das Problem des Personalmangels nicht lösen lassen. „Ohne Zuwanderung geht es nicht“, sagt Professor Henning Vöpel vom Centrum für europäische Politik. Vor allem mit Blick auf hoch qualifizierte Tätigkeiten müsse sich Deutschland im Allgemeinen und Hamburg im Besonderen stärker für Menschen aus dem Ausland öffnen. „In mit Hamburg vergleichbaren Städten wie Rotterdam oder Kopenhagen ist es zum Beispiel normal, dass sich Beschäftigte untereinander auf Englisch unterhalten. Da hapert es gerade in mittelständischen Hamburger Betrieben noch“, sagt Vöpel, der viele Jahre lang das Hamburger Wirtschaftsforschungsinstitut HWWI geleitet hat. Zudem sollten die bürokratischen Barrieren für arbeitssuchende Zuwanderer abgebaut, ausländische Abschlüsse einfacher anerkannt werden.
Gastronom erhielt Bewerbungen aus dem Iran
Das sieht auch Gastronom Stacklies so: „Es ist oftmals sehr kompliziert, Personal aus dem Ausland zu beschäftigen.“ Dabei bekomme er häufiger Anfragen von Menschen aus fernen Ländern, die gerne bei ihm arbeiten würden. Erst kürzlich habe er drei Bewerbungen aus dem Iran auf dem Schreibtisch gehabt. „Aber das ist doch sowieso aussichtslos“, sagt Stacklies resigniert. Derzeit füllt er Personallücken unter anderem mit Rentnern. „Die haben einfach Bock, noch etwas zu machen, wollen nicht nur zu Hause rumsitzen. Denen geht es gar nicht ums Geld.“
Rentner, die aus Langeweile kellnern? Ja, die gibt es, nicht nur bei Stacklies. Doch immer mehr Senioren bleibt mit Blick auf ihre mickrigen Renten gar nichts anderes übrig, als auch mit 70 oder 75 – wenn die Gesundheit es zulässt – zu arbeiten. Denn wer kann in einer teuren Großstadt wie Hamburg von einer gesetzlichen Durchschnittsrente von netto weniger als 1000 Euro leben, wenn er obendrauf nicht noch eine üppige Betriebsrente bekommt oder über ein hohes Sparvermögen verfügt? Eine Anhebung des offiziellen Renteneintrittsalters jenseits von 67 Jahren ist zwar aktuell politisch nicht durchsetzbar. Dennoch sorgt die Realität der Altersarmut für eine Anhebung des Rentenalters durch die Hintertür.
Wird die Digitalisierung Arbeiter ersetzbar machen?
Mehr Zuwanderer, rüstige Rentner, zusätzliche Vollzeitkräfte – sie sind Teil einer Lösung für ein riesiges Problem. Aber eben nur ein Teil. Nicht zu unterschätzen ist der technische Fortschritt, der Arbeit in den kommenden Jahrzehnten überflüssig machen wird, machen muss. Diese Entwicklung hält mittlerweile in nahezu jeder Branche Einzug. In Supermärkten werden Kassiererinnen und Kassierer durch Selbstscankassen ersetzt, in Altenheimen hält der niedliche Roboter mit den großen Augen die Senioren mit mehr oder weniger lustigen interaktiven Spielen im digitalen Format bei Laune, Betonteile für das Fertighaus werden nicht mehr von Menschenhand angemischt, sondern kommen wie aus Zauberhand aus dem 3-D-Drucker. Die Liste solcher Beispiele ließe sich unendlich fortsetzen.
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In allen Bereichen der Wirtschaft wird experimentiert, geforscht, gewerkelt, um menschliche Arbeitskraft, die rar ist, durch technische Lösungen zu ersetzen. Dabei geht es vor allem um einfache Tätigkeiten. Jobs, die körperlich anstrengend oder mental eintönig sind, stehen ganz oben auf den Rationalisierungslisten. Zunächst kein Problem, sollte man denken. Denn wer will schon harte und langweilige Arbeiten ausführen? Doch noch immer gibt es ein Heer von Ungelernten, die auf genau diese Jobs angewiesen sind. Deshalb ist der Appell der Arbeitsagentur Hamburg unzweideutig: „Ausbilden, ausbilden, ausbilden!“ Und zwar genau in den Berufen, die in Zukunft benötigt werden. Denn nur so kann zumindest die Zahl der Ungelernten von morgen kleingehalten werden.
Darüber hinaus wirbt die Arbeitsagentur vehement für Weiterqualifizierungen und Umschulungen. Denn nur wer sich ständig fortbilde, habe langfristig eine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Anders ausgedrückt: Deutschland kann es sich nicht leisten, auch nur eine einzige potenzielle Arbeitskraft aufzugeben. Allein für die Klimapläne der Bundesregierung werden nach Berechnungen des IAB ab 2025 rund 400.000 zusätzliche Beschäftigte benötigt. Für den Austausch von Heizungen, die Installation von Solarpanelen, den Einbau von Wärmepumpen und viele andere Maßnahmen. Das hehre Ziel: Die Reduzierung der Erderwärmung. Bei der Arbeitsmarktpolitik der Zukunft geht es also längst um mehr als Jobs und nationalen Wohlstand.